Die Älteren werden es noch aus dem Radio kennen: Es ist kurz vor der vollen Stunde. Die Nachrichten stehen vor der akustischen Tür und der Sender fährt die Lautstärke des gerade laufenden Musikstückes plötzlich und unvermittelt herunter. Seine Stunde hat geschlagen: Die Realität hatte schon immer Priorität vor der Musik.
Live habe ich so etwas allerdings bisher noch nicht erlebt. Bis heute, Donnerstag, 14. August 2025, Kunstrasen Bonn: Jan Delay und seine Band Disco No. 5 sind kurz vor 22.00 Uhr bei der Zugabe „St. Pauli“. Die Stimmung kocht. Und dann: Einigermaßen mitfühlendes und zögerliches Herunterfahren der Lautstärke und dann Stille aus den Boxen.
Jan Delay konnte „vor seinem Ende“ noch etwas scherzhaft vorschlagen, dass alle (ca. 7000) Zuschauer nach dem Konzert in Beuel den wegen Lautstärke klagenden Anwohner einen kurzen Besuch abstatten und „Klingelmäuschen“ spielen könnten. A bisserl hilflos, aber ganz süß.
Rechtliche Lage statt Klingelmäuschen
Wie ist die rechtliche Lage? Es prallen zwei Rechte aus dem Grundgesetz aufeinander: Art. 2 Abs. 2 GG – Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit: Wird bei Lärmbelastung relevant, weil dauerhafter oder nächtlicher Lärm die Gesundheit beeinträchtigen kann. Art. 14 GG – Schutz des Eigentums: Auch das Wohn- und Nutzungsrecht am eigenen Grundstück fällt darunter. Art. 5 Abs. 3 GG – Kunstfreiheit: Schützt Musiker, Veranstalter und Kulturprojekte. Die Vorgaben für Wohngebiete: Lautstärkepegel nachts meist 35–40 dB(A), in Mischgebieten nachts ca. 45 dB(A). So leise ist halt kein Rock- (oder wie man auch immer die Musikrichtungen nennt)-konzert.
Es gibt in Deutschland Ausnahmewege: Einzelfallgenehmigung nach § 6 BImSchG § 12 Abs. 2 TA Lärm: Für „seltene Ereignisse“ (max. 10 pro Jahr) dürfen Grenzwerte überschritten werden, wenn ein öffentliches Interesse vorliegt. Städte können für bestimmte Festivals eigene Regeln erlassen (z. B. „Stadtfest darf bis 24 Uhr spielen“). Vielleicht könnte die Stadt Bonn den Kunstrasen „adoptieren“?
Es bleibt kompliziert, und ein Beispiel, wie das allgemeine und mehrheitliche Interesse (langes Konzert) gegenüber dem Interesse eines einzelnen (kurzes Konzert) zurücktreten muss.

Vier Jahre nach Jan Delays letzten Bonn-Besuch
Als ich Jan Delay 2021 zuletzt auf dem Kunstrasen gesehen habe, war es die große „Post-Covid-Befreiungsparty“. Damals stand alles unter dem Eindruck: Wir dürfen wieder! Alle Masken runter und feiern!
Jetzt: Jan Philipp Eißfeldt, inzwischen 49. Immer noch in geschmackvoll-lässiger Weiterentwicklung seines „Anzug mit Sneakern (und zu kurzer Hose)“-Looks. Hut und Sonnenbrille sind geblieben, Markenzeichen und Tarnkappe zugleich. Man sieht ihn stundenlang ganz genau auf der Bühne. Ohne Hut und Sonnenbrille würde ich ihn in der Stadt wahrscheinlich nicht erkennen. Ist wohl gewünscht, so.
2021 präsentierte er „Earth, Wind & Feiern“. 2025 ist das Repertoire breiter. Neben den unverwüstlichen Hits („Klar“, „Oh Johnny“, „Türlich, türlich“) und den damaligen Singles stehen jetzt auch Songs aus den Projekten der letzten Jahre im Programm. Ein „Best of“ von über 25 Jahren Bandbestehen. Funkige, teils house-angehauchte Tracks mit Afrobeats-Anleihen, ein paar neu interpretierte Hip-Hop-Nummern. Unzählige Zitate aus der internationalen Discowelt wie „Last Night That DJ Saved My Life“.
„Disko No. 1“ ist ein Kollektiv aus hochkarätigen Groove-Architekten. Schlagzeuger Jost Nickel – damals wie heute das Herzstück – liefert wieder diese unverwechselbaren, federnden Beats, die den Boden unter den Füßen erzittern und das eigene Körpergewicht vergessen lassen. Die Bläsersektion hat ein, zwei neue Gesichter. Und die „Ladies“, die das Ganze optisch und akustisch bereichern, für die aber keine größeren Solopassagen vorgesehen sind.
2021 stand das Publikum am Anfang noch brav zwischen den Stuhlreihen, tastete sich heran. Heute gibt es diese Bremsphase nicht. Noch bevor der erste Chorus verhallt, sind alle vorne an der Bühne. Die Generation 40–60, die schon vor vier Jahren dabei war, mischt sich mit vielen jüngeren Fans – vermutlich Kinder, die damals noch im Teenageralter waren.
Jan ist immer noch Entertainer, Drill Sergeant, Spaßmacher und Chronist in einer Person. Nur wirkt er heute noch etwas entspannter. Seine Ansagen sind weniger „Wir müssen jetzt“, sondern mehr „Lasst uns zusammen“. 2021 wollte er beweisen, dass man wieder feiern kann. 2025 muss er nichts mehr beweisen – er weiß, dass es funktioniert. Gesundes Urvertrauen, das sich mit einer großen und personenübergreifenden Überzeugungskraft äußert.

Eine musikalische Gesamtleistung
Jan beweist eine enorme Konsequenz und Kondition. Sowohl über die 25 Jahre Bandgeschichte, als auch über diesen heutigen langen Abend bei gefühlten 40 Grad Celsius. Diese Rolle, diese Figur, diese Energie ist nicht an eine Ära gebunden. Seit 25 Jahren mit dem Produkt „Jan Delay“ auf Tour. Mit toller Energie gestartet, mit toller Energie angekommen.
Gerne spielt die Band (und hören die Leute im Publikum) auch die ersten Anfänge des Projektes. Reggae, Dancehall. Hieraus hat sich der hochfrequente, nasale leicht wie verschnupfte Ton von Jan Phillips Stimme entwickelt. Der Groove: Jost Nickel, der überlegene und souveräne Drummer, oft „laid back“ mit der Snaredrum, aber mit Kickdrum genau „on top“, ohne etwas zu verschleppen. Genau nur so viele Breaks, das es zwar interessant bleibt, aber nie zu viel rummachen und ja nie den Fluss verlieren (ist sonst bei den meisten Drummern leider so). Immer „in the pocket“ und im besten Sinne: keeping time. Jost ist heute wieder „the rock“.
Keine Angeberei, sondern songdienliche Musikalität. Jost denkt eher wie ein Produzent, nicht wie ein reiner Schlagzeuger. Deshalb wirken seine Grooves immer wie Teil eines Arrangements – und nicht wie ein Solo. Wer nur oberflächlich hinhört, hört einen einfachen Beat. Wer genau hinhört, erkennt die „ghost notes“, erkennt, wie jeder Schlag bewusst geformt und ausformuliert ist – das ist handwerklich hochklassig.
„Habt ihr Bock zu raven?“
Famous last words von Jan Philipp Eißfeldt gegen 21.50 Uhr
Bedeutung und grammatikalische Erklärung: „Bock haben“ + Infinitiv mit „zu“. „Habt“ = zweite Person Plural Präsens von haben. Hier als Hilfsverb für den Ausdruck „Bock haben“ im Sinn von „Lust haben“. „Ihr“ = Anredepronomen in der zweiten Person Plural. Die Frage richtet sich also an mehrere bzw möglichst viele Personen. „Bock“ = Slangwort aus dem Deutschen (ursprünglich wohl Rotwelsch/Soldatensprache, später Jugendsprache), bedeutet Lust, Interesse, Motivation. „Bock haben“ auf etwas = etwas gerne tun wollen. „Zu ‚raven‘“ → „raven“ (to rave) aus der Club- und Technoszene = exzessiv zu elektronischer Musik tanzen und feiern.
Antwort des Publikums (altersübergreifend, innerhalb von Millisekunden abgegeben und wahrscheinlich ohne genauere grammatikalische Analyse): „Jaaa“.
Alle Bilder: Marc John