Seit der Sommerpause hat sich viel getan. Neben zahlreichen bestaunenswerten neuen Produktionen wurde vor kurzem der Bonner Theaterpreise Thepsis der Gesellschaft der Freunde des Schauspiels Bonn e.V. und der Theatergemeinde vergeben. Im Jahr 2024 erhielt diesen die, in Zürich geborene Schauspielerin Ursula Großenbacher, die seit der Spielzeit 2014/15 fest zum Bonner Ensemble gehört. Sie beeindruckte zuletzt als Wissenschaftlerin Rose in Lucy Kirkwoods Die Kinder, aber unter anderem auch 2016 in Lukas Linders Draußen rollt die Welt vorbei.
Auch an der Bonner Oper gibt es Neues zu berichten. Seit der aktuellen Spielzeit gibt es sogenannte Liedersoireen. Sängerinnen und Sänger arrangieren selbst einen Abend mit eigenem Programm in Salon-Atmosphäre im Foyer des Opernhauses. Die nächsten Abende gestalten hier am 25. November Ava Gesell, im kommenden Jahr am 13. Januar Dshamilja Kaiser und am 10. Februar Christopher Jaehnig. Außerdem brachte das Opernhaus mit Richard Wagners Die Meistersänger von Nürnberg einen epischen Bühnen-Koloss mit etwa sechs Stunden Aufführungszeit inklusive zweier Pausen auf die Bühne. In Bonn wurde Wagners umstrittenes Künstlerdrama letztmals 1988 in der Regie von Jean-Claude Riber gezeigt, Bonns einstigem Intendanten. Zu diesem Mammut-Projekt anbei nun ausführlicher:
Die Meistersinger von Nürnberg von Richard Wagner
Nächste Vorstellungen am 2., 22. und 24. November im Bonner Opernhaus
Liebeswirren, kuriose, verschrobene Gebräuche und allerlei Turbulenzen – Regisseur Aron Stiehl, Intendant des Stadttheaters Klagenfurt, inszenierte Richard Wagners Die Meistersinger von Nürnberg, uraufgeführt 1863 in München, als komplexes Lustspiel. Die Vorführung feierte am Tag der deutschen Einheit an der Oper Bonn Premiere. Das Einheitsbühnenbild (Bühne und Kostüme: Timo Dentler und Okarina Peter) zeigt zu Beginn einen Gemeindesaal mit Bühne und Ausschank. Im Versammlungsraum findet hier anfangs eine Chorprobe statt, später eine Karnevals-Prunksitzung. Verschrobene Meistersinger pflegen als Mitglieder eines (rheinischen) Karnevalsvereins das Brauchtum. Solisten und Chor tragen Kostüme der 50er-Jahre.
Noch vor Beginn der Ouvertüre wird die Sprengung des Hakenkreuzes über dem Nürnberger Parteitagsgelände am 22. April 1945 durch die Amerikaner in flackernden Schwarz-Weiß-Bildern auf einer Filmleinwand im Bühnenzentrum projiziert. Hier deutet sich früh ein Befreiungsversuch von der historischen NS-Vereinnahmung von Wagners Oper an.
Inhaltlich geht es um einen Wettstreit, das Nationale und die Regeln der Kunst. Ein grundloser Anlass für Eifersucht löst im zweiten Akt eine laute und trubelige Massenprügelei aus, bei Wagner eine sogenannte Völkerschlacht. Puppen mit Konterfeis faschistisch-populistischer Politiker der Jetztzeit wie Trump, Le Pen, Weidel, Höcke und Meloni deuten sich hierzu im Hintergrund an; auch sie säen Spannungen und Feindseligkeit. Später sinniert Hans Sachs, die wohl wichtigste Figur der Oper, nachdenklich über allgegenwärtigen Wahn und blickt dabei effektvoll auf ein Pappmache-Konterfei von Putin.
Wagner selbst setzt mit seiner Oper auch einer historische Persönlichkeit ein Denkmal: Der Nürnberger Schuhmacher Hans Sachs (1494-1576) wird in Die Meistersinger von Nürnberg als souverän moderierender Vereinsvorsitzender und Sitzungspräsident bei den Meistersingern gezeichnet. Tobias Schabel mimt ihn facettenreich als melancholischen, der Liebe entsagenden, nachdenklichen aber unbestechlichen Handwerker mit raumgreifenden, durchdringenden und stimmstarken Bass. Der Witwer Sachs konkurriert alsbald mit Beckmesser, verzichtet jedoch auf eine Teilnahme am Meistersingen zugunsten eines dritten, Walther von Stolzing.
Der Tenor Mirko Roschkowski singt den jugendlich trotzigen, emotionalen und romantisch verliebten Walther von Stolzing lyrisch, mit schlanker, hell timbrierter Stimme. Der farbenfroh geschminkte und mit ausgefallenem Kostüm ausgestattete Bariton trägt sein Preislied stimmschön strahlkräftig und voluminös vor.
Auch Sixtus Beckmesser hat bei den Meistersingern eine wichtige Rolle als Schriftführer inne. Bariton Joachim Goltz verkörpert ihn pointiert, bieder und pedantisch korrekt mit Schlips und Sakko. Er wirbt mit Sachs‘ Lied um Evas Hand als Preis, wie um einen Status, den er versessen zu erhalten hofft. Goltz spielt die komische Rolle auf sympathische, mitunter auch peinliche Weise, wenn er etwa betont schräg und unfähig singt.
Die russische Sopranistin Anna Princeva mimt eine anmutige Eva Pogner, um deren Hand sozusagen beim Preissingen geworben wird, mit kräftigen stimmlichen Ausdrucksnuancen und lyrisch-dramatischem Sopran. Einfühlsam lässt sie stimmliche Schattierungen erkennen, etwa wenn sie sich beim Schuhmacher Sachs über die drückenden Brautschuhe beklagt. Zart, nichtdestotrotz leidenschaftlich flirtet sie mit ihm mit glanzvoller und vokal leuchtender Stimme.
Der Serbe Pavel Kudinov, der Eva als ihr Vater zum Preisgewinn erklärt, mimt seine Rolle solide mit sonorem, farbigen Bass. Dshamilja Kaiser gefällt in der Rolle von Evas Amme und Vertrauter Magdalene mit warmen, strahlkräftigen Mezzosopran. Aus dem Meistersinger-Ensemble stechen außerdem Manuel Günther als David und Carl Rumstadt als Fritz Kothner mit schauspielerisch liebevoll gestalteten Figuren und sängerisch wendig nuancenreichen und kraftvoll-runden Stimmen hervor.
Neben den achtundzwanzig Solopartien wartet auch der neunzigköpfige Chor und Extrachor des Bonner Theaters unter der Leitung von André Kellinghaus mit Spielfreude und prächtig-klangschönem Gesang auf. Später tragen alle Karnevalsuniformen in einheitlichen Grüntönen.
Das Beethoven Orchester unter der Leitung von Dirk Kraftan spielt temporeich, flüssig und pointiert. Leichtfüßig im Klang und präzise in den Tempi werden pathetische Teile der Komposition deutlich gerafft.
Am Ende strömt der Chor in den Zuschauersaal und präsentiert zu Hans Sachs’ Schlussansprache „Verachtet mir die Meister nicht, /und ehrt mir ihre Kunst!/ Was ihnen hoch zum Lobe spricht,/ fiel reichlich euch zur Gunst.“ auf Papptafeln über hundert Namen großer Deutscher als mögliche Vorbilder, darunter auch Meisterinnen wie die Künstlerin Katharina Grosse und Schriftstellerinnen wie Fatma Aydemir und Irmgard Keun.
Aron Stiehl beeindruckt mit seiner stimmigen, rheinischen Neueinstudierung von Richard Wagners einzige Komödie mit innigen Bildern. Gerade zur drohende Wiederwahl Donald Trumps, die Demokratien gefährdet, ist dies eine schöne und stimmige Auffrischung des Klassikers mit immerhin leisen Bezügen zur Gegenwartspolitik.
Neu auf der Bühne:
Fremd nach Michel Friedman, am 9., 15., 22.11., 19.12. in der Werkstatt
Die literarische Vorlage behandelt das Aufwachsen mit einer jüdischen Glaubenszugehörigkeit und damit einhergehende existentielle Ängste, Einsamkeit, Fragen nach Identität und Zugehörigkeit. Die deutsch-kurdische Regisseurin Emel Aydoğdu schafft in ihrer pointierten Adaption eindringliche Bilder, in denen ihre drei Charaktere miteinander und umeinander ringen, aber auch stets mit Momenten der Einsamkeit hadern und über eigene Ängste sinnieren. Zur Besprechung.
216 Millionen von Lothar Kittstein, am 31.10., 15.11., 14. und 19.12. im Schauspielhaus
Der Stücktitel spielt darauf an, dass es laut einem Report der Weltbank bis zum Jahr 2050 216 Millionen Flüchtlinge vor Folgen des Klimawandels geben dürfte, aufgrund steigernder Hitze, Naturkatastrophen, Ernteausfällen oder Trinkwasserknappheit. Vier grau gekleidete Menschen mit Fluchterfahrungen eröffnen laut den Abend. Teils von zwei oder mehr Personen synchron ausgerufene Erlebnisberichte von Verfolgung und Gewalt, Hitze, Dürre, Stürmen und Überschwemmungen sind keine leichte Kost. In einer geballten Dichte wird von bitteren Lebenshintergründen und bewundernswertem Mut erzählt. Zur Besprechung.
Amphitryon nach Molière, am 2., 9. 17 und 22. November und 6. Dezember im Schauspielhaus.
Molières Komödie Amphitryon aus dem 17. Jahrhundert existierte in dramatischen Varianten von der Antike bis zur Moderne. Martin Laberenz zeigt in seiner Inszenierung des Spieles um Verwechslungen, Täuschungen, Missverständnisse, absurde Abgründe und fluide Identitäten Verweise sich theatralisch in Pose werfende Figuren, die um Orientierung am Rande des Verstandes kämpfen. Wenn sie über die Bühne hechten, spricht das den Lachnerv an. Zur Besprechung.
Wie man nach einem Massaker humanistisch bleibt in 17 Schritten von Maya Arad Yasur im Foyer des Schauspielhauses, nächste Vorstellungen am 12. November und 11. Dezember;
Zwanghaft, sich wiederholende Bewegungen, angstvolle Gesten, weit aufgerissene Augen: gebeugt zittern die beiden Personen auf der Bühne oder zucken bei lauten Erschütterungen erschrocken zusammen. Mit dem im Foyer des Schauspielhauses gezeigten Theaterstück versucht die israelische Autorin Maya Arad Yasur das Massaker der Terrororganisation Hamas am 7. Oktober 2023 zu verarbeiten. Djamilja Brandts Setting in Bonn mit einer Matratze, Sitzelementen und tiefen Nachttischen erscheint karg, klinisch steril und bedrückend hell. Zur Besprechung.
Highlights des internationalen Tanzes: Als nächstes spielt das Kopenhagener Dansk Danseteater mit Køter am 12. und 13. November in der Oper Bonn
Das chinesische Tao Dance Theater sorgte zuletzt mit den Choreographien 13 und 14 für einen ausverkauften Ballett-Abend an der Oper Bonn. Die Tanzenden ergehen sich in beharrlichen, präzisen und fast rituellen Drehungen und Wiederholungen. Sie erproben sich aus der Hüfte heraus in kurvenartigen, wellenartig gekrümmten, bald kreisförmig fließenden Bewegungen. Wir betrachten kaleidoskopartig Körperbewegungen und sich steigernde dynamische Variationen. Aufmerksam interagiert das Ensemble im Einklang miteinander, wenn es die komplexe Kreation im Sinne eines Kollektivs variiert.
Weiterhin im Repertoire:
Die Legende von Paul und Paula von Ulrich Plenzdorf, am 1. und 21. November, 20. und 31. Dezember im Schauspielhaus
Die Aufführung im Bad Godesberger Schauspielhaus erzählt die Geschichte von Heiner Carows gleichnamigen Kultfilm von 1973, einer der erfolgreichsten Filme der DDR. Paula beginnt eine leidenschaftliche Affäre mit dem verheirateten Familienvater Paul. Motive der Vorlage wie das Segel-Setzen, das schnelle Fahren und das Werden und Vergehen von Liebe, die ganzen Ambivalenzen und das Träumerische von Gefühlen gestaltet Roland Riebeling eindrücklich. Insgesamt ein gelungener Theaterabend voller Melancholie und Schwermut, aber auch mit viel Kraft und Optimismus. Zur Besprechung
Bilder deiner großen Liebe von Wolfgang Herrndorf, am 18., 19., 20. und 26. November, 7. und 13. Dezember in der Werkstatt
Ein beeindruckendes Zweipersonenstück: Auf der Bühne verändern sich die Paar-Konstellationen im schnellen Tempo, das Geschehen wird durch gelungene choreographische Elemente aufgelockert. Die beiden Akteure spielen unterschiedlichste Begegnungen durch. In allen Zusammenkünften geht es letztlich um intensive Gefühle. Unterhaltsam werden letztlich die großen Fragen des Lebens thematisiert, denen sich der schwer krebserkrankte Herrndorf in seinem unvollendet gebliebenen Roman kurz vor seinem Freitod stellte. Zur Besprechung
Was fehlt uns zum Glück? nach dem Fragebogen von Max Frisch, am 1. und 21. November, 20. und 31. Dezember in der Werkstatt
Es ist ein Wagnis, Max Frischs kritische Selbstbefragung aus seinen Tagebüchern auf die Bühne zu bringen; er schrieb daran in den Jahren 1966 bis 1971, sie erschienen komplett erstmals 2019. Am Theater Bonn gelingt die Adaptation in Teilen. Regisseurin Katrin Plötner lässt die Akteure elf Fragenkomplexe Frischs anhand ausgewählter Fragen vorstellen. Anfangs herrscht eine gewisse Aufgeräumtheit in Bettina Pommers Bühnenbild. Bühnenwände und Boden sind wie Badezimmerfliesen gekachelt. Das weiße Kachelmuster mit dunkelblauen Streifen wiederholt sich auch auf den Requisiten; Elemente wie Quader, Würfel, Dreiecke spiegeln das Muster. Die fünf Akteure tragen anfangs alle korrespondierende Kostüme von Johanna Hlawica, derer sie sich teils nach und nach entledigen. Auch Ewa Góreckis effektvolle wackelnde Lichtprojektion auf die Bühne variiert das Muster. Zur Besprechung
Woyzeck von Georg Büchner, am 15. November, 11. und 12. Dezember im Schauspielhaus
Sarah Kurze findet am Theater Bonn schöne Bilder für das frühe soziale und moderne Drama von Georg Büchner, das auf dem realen Kriminalfall des Johann Christian Woyzeck (1780–1824) beruht. Ausweglos scheint die Isolation Woyzecks: Dreimal zeigt die junge Regisseurin in einem Zwischenspiel mit choreographisch sich wiederholender Pantomime ein Bild der sozialen Kälte, Beziehungslosigkeit und Entfremdung: Alle Figuren gehorchen wie mechanisch ihren eigenen routinierten Bewegungen, ohne Woyzeck zu beachten, der rastlos und sorgenvoll um sie kreist und sie ungläubig anstarrt. Zur Besprechung
Istanbul mit Liedern von Sezen Aksu am 16. November, 17. und 26. Dezember im Schauspielhaus
Istanbul behandelt die Nostalgie und den Schmerz des Schicksals des Wanderarbeiters, der seine Heimat verlassen hat; nur dass die „Gastarbeiter-Situation“ umgedreht wurde. Es erzählt vom fiktiven Schicksal deutscher Arbeiter in der bevölkerungsreichsten Stadt der Türkei. Die Melancholie und Stimmung fängt Roland Riebelings Inszenierung auf fabelhafte Weise ein. Melancholisch-bilderreiche Lieder der türkischen Sängerin Sezen Aksu werden dabei temporeich von fünf wechselnden Akteuren vorgetragen. Ein Abend auf hohem, künstlerischem Niveau. Zur Besprechung
Frauen vor Flusslandschaft nach dem Roman von Heinrich Böll, am 5. Dezember im Schauspielhaus
Bei den titelgebenden Frauen handelt es sich um Gattinnen oder Lebensgefährtinnen von Politikern und deren Bankiers. Mit Flusslandschaft ist die Villengegend am Rhein in Bonn-Bad Godesberg gemeint. In dem posthum 1985 erschienen Werk geht es dem Literaturnobelpreisträger nicht um konkrete Politiker in der ehemaligen westdeutschen Hauptstadt. Die Vorlage problematisiert, dass Männer trotz Nazi-Vergangenheit in der Bonner Republik leitende politische Positionen innehaben. Anders als in Bölls Alterswerk werden Umgebung, Geschehen oder Figuren in der gerafften, szenisch neu inszenierten Adaption für die Bühne nicht näher vorgestellt. Zur Besprechung
Alle Fotos vom jeweiligen Abschlussapplaus | Foto (c) Ansgar Skoda