Beethovenjahr am Geburtsort: Die Oper Bonn kombiniert Manfred Trohjahns Welturaufführung Ein Brief mit Beethovens selten gespieltem, einzigem Oratorium Christus am Ölberge. Regisseurin Reinhild Hoffmann findet choreographisch kunstvolle Bilder.
Es ist ein szenisches Wagnis, Beethovens Oratorium Christus am Ölberge mit Ein Brief, einer neuen Komposition Manfred Trojahns, zu verbinden. Trohjahn (Jahrgang 1949) schuf die reflexive Szene mit dem schlichten Titel Ein Brief als Auftragskomposition für die Oper Bonn. Das Bühnenwerk für Bariton, Streichquartett und Orchester dient als Prolog für Beethovens Oratorium. Ein Brief thematisiert ebenso wie Christus am Ölberge eine existentielle Krise und angstbeladene Seelenzustände. In beiden Stücken werden zwei Protagonisten mit Unsicherheit, Verzweiflung und Leiden konfrontiert. Trojahns Werk liegt Hugo von Hofmannthals sogenannter Chandos-Brief von 1902 zugrunde, in dem Hofmannsthal wortreich die eigene Schreibhemmung thematisiert. Hofmannsthal versetzt sich in die Rolle des fiktiven, 26-jährigen Lord Chandos, der an seinen Förderer, den Philosophen und Empiriker Francis Bacon (1561-1626) schreibt. Hofmannsthal formuliert seine Zweifel, mit Lyrik Gefühle ausdrücken und die Welt beschreiben zu können. Die Bonner Inszenierung bezieht Hofmannsthals Empfinden der unzureichenden Sprache auf die Lebenskrise des in seiner Hörfähigkeit stark eingeschränkten Komponisten Beethovens. Die Vorführung reduzierte Hofmannsthals Vorlage auf etwa ein Drittel.
Regisseurin Reinhild Hoffmann entwarf für beide Werke einen schlichten, identischen Bühnenraum. Die halbrunde Bühne ist grau. Es gibt eine Öffnung, durch die Laub hineingeweht wird. Ein etwa 2 Meter breites und 3 Meter hohes Buch mit purpurfarbigem Einband liegt als wichtigstes Requisit im Bühnenzentrum. Anfangs ist es geschlossen.
Bariton Holger Falk rezitiert als Lord Chandos die vielsagenden, verkopften und unzusammenhängenden Wortkaskaden seines Briefes nuanciert zwischen Sprechgesang und kurzen Ariosi. Seine eindringliche Singstimme ist trotz schrill-expressiver Einwürfe aus dem Orchestergraben auch in hohen Tenorlagen durchweg gut verständlich. Falks gesanglicher Ausdruck wirkt mal reduziert und kontemplativ, dann wieder kraftvoll und ausdrucksstark. Das unter der Leitung des Chefdirigenten Dirk Kraftan kammermusikalisch aufspielende Beethoven Orchester irritiert mitunter durch große Sprünge und plötzliche Steigerungen. Subtile und feine rhythmische Klangmotive kontrastieren mit lang durchgehaltenen Tönen. Als Chandos das Buch aufklappt, werden sich verändernde Bilder von Renaissance-Gestalten an die Bühnenwände projiziert. Die Bilder erinnern an geistige Motive und Vorlagen für mögliche Poesie. Holger Falk bewegt sich im eleganten, zunehmend etwas derangierten Mantel alleine auf der Bühne. Er erscheint bald etwas orientierungslos und verzweifelt.
Auf den etwa 40minütigen Prolog folgt nach einer Pause das Hauptwerk des Abends. Beethovens Oratorium Christus am Ölberge enthält frei arrangierte Evangelienfragmente. Sie behandeln die Zusammenkunft von Jesus Christus mit seinen Jüngern im Garten Gethsemane kurz vor seiner Gefangennahme. In der Passionsgeschichte erscheint Jesus als fühlender Mensch mit Ängsten angesichts der Qualen des künftigen Opfertodes. Er fleht seinen Vater um Trost an und hat Selbstzweifel. Nach dem Libretto von Franz Xaver Huber singt Kai Pfluge in der Rolle des Jesus kurz nach der Ouvertüre die Arie: „Meine Seele ist erschüttert von den Qualen, die mir dräu´n …“ Reinhild Hoffmann entwickelte mit Tänzerinnen und Tänzern des Folkwang Tanzstudios choreographische Szenen, die das Geschehen szenisch ausgestalten. Bald heben auftretende Tänzerinnen und Tänzer das inmitten der Bühne liegende Buch – nun die Bibel symbolisierend – empor und klappen es auf. Verschiedene Figuren wie ein Seraph erscheinen aus den leeren Seiten des Buches. Die Tänzer tragen den Seraphen auf ihren Schultern. Der Seraphen spricht in der Arie „Preist des Erlösers Güte“ Jesus Mut zu. Jesus stimmt bald in die weichen Bewegungen der Tänzer ein und lässt sich in der Gemeinschaft seiner Jünger drehen. Der christliche Erlösungsmythos wird bald in gemeinsamen Duetten beschworen, bevor ein Chor der Krieger Jesus ergreift und Petrus versucht, Jesus zu retten. Jesus, die Tänzer und der Chor tragen weite, japanisch anmutende Hosenröcke oder zeitlose Alltagskleidung in Grautönen. Der Seraph hebt sich von ihnen im schillernden, blauen, madonnenhaften Samtkleid ab (Kostüme: Andrea Schmidt-Futterer). Jesus findet sich schließlich in sein Schicksal des Kreuzestodes.
Kai Kluge vermittelt die Zerrissenheit des Jesus Christus anrührend mit lyrischen, geschmeidigen und kraftvollen Tenor. Ilse Eerens mimt den Seraphen souverän mit strahlendem und einnehmendem Koloratursopran. Seokhoon Moon verkörpert den Petrus auch darstellerisch eindringlich mit kräftigem und markantem Bass. Auch der von Marco Medved einstudierte Chor sorgt vielfach mehrstimmig für farbige und klangschöne Opernmomente.
Die aufwendige, von der BTHVN2020-Projektgesellschaft geförderte Produktion bietet gelungenes szenisches Musiktheater auf hohem musikalischem Niveau. Reinhild Hoffmann schafft stilvolle und ästhetische Bilder ohne allzu viel Pathos. Die Verbindung der beiden unterschiedlichen Musikstile Trohjahns und Beethovens gelingt jedoch nicht ganz und erscheint schlussendlich als etwas schräger Spagat.
Ein Brief wird übrigens am 29. Februar 2020 im Theater an der Wien konzertant aufgeführt.
Ausschnitte der Bonner Premiere werden am 8. April 2020 um 20.04 Uhr im SWR2 Abendkonzert ausgestrahlt. [Alle Fotos (c) Thilo Beu]
EIN BRIEF | CHRISTUS AM ÖLBERGE (Oper Bonn, 14.2.2020)
Musikalische Leitung: Dirk Kaftan
Inszenierung, Bühne und Choreografie: Reinhild Hoffmann
Kostüme: Andrea Schmidt -Futterer
Video: Frederik Werth
Licht: Boris Kahnert
Dramaturgie: Thomas Fiedler, Andreas K. W. Meyer
Choreinstudierung: Marco Medved
EIN BRIEF
Chandos … Holger Falk
Beethoven Orchester Bonn
CHRISTUS AM ÖLBERGE
Jesus … Kai Kluge
Seraph … Ilse Eerens
Petrus … Seokhoon Moon
Tänzerinnen und Tänzer des Folkwang Tanzstudio … Baptiste Bersoux, Emily Castelli, Yi-An Chen, Stsiapan Hurski, Jihee Kim, Giuseppe Perricone, Darko Radosavljev, Narumi Saso, Mariane Verbecq, Pierandrea Rosato
Chor … Chor des Theater Bonn
Extrachor … Extrachor des Theater Bonn
Beethoven Orchester Bonn
Premiere/ Uraufführung am Bonner Opernhaus war am 8. Februar 2020.
Nächste Termine: 12., 28.3./ 5., 11.4.2020.
Weitere Infos siehe auch: https://www.theater-bonn.de/de/programm/ein-brief-christus-am-olberge/153299