Das Konzert der Hamburger Hip-Hop- und Electropunk-Formation lockte nicht als einziges Event vergangenen Samstagabend in die Bonner Rheinaue. Da kein Support angekündigt war, konnten Vor-Ort-Besucher noch vor Konzertbeginn letzte Stände eines Flohmarkts vorm Abbau durchstöbern. Ferner luden auf der 28. Bierbörse Stände nahe dem Festivalgelände, etwa von Störtebeker und Vulkanbräu, zu einem Einstimmungsdrink. Insbesondere bei den Herren sorgten auf der Bierbörse nach genehmigten Bembeln, Krügerln, Tulpen oder Seideln Pissoirgänge an kreisrund-kommunikativen Steh-Urinalen für spritzige Unterhaltungen. Vor Konzertbeginn auf dem KunstRasen heizten dann eingeblendete Musikbeiträge auf Video-Leinwänden beidseitig der Bühne, etwa „Jump around“ von House of Pain oder Bonnie Tylers „Total eclipse of the heart“ die Stimmung an.
Die Hamburger Elektro-Hip-Hopper von Deichkind gibt es schon seit über einem Vierteljahrhundert. Sie gründete sich 1997 und wurde 2000 mit dem Hit „Bon Voyage“ bekannt, den sie zusammen mit Nina MC interpretierten. Deichkind gehören zur alten Hamburger Schule und gelten als Pioniere der Elektronisierung des Rap. 2008 gelang den Hanseaten der Durchbruch mit dem Album Arbeit nervt, noch erfolgreicher war dann jedoch Befehl von ganz unten von 2012. Der Hit „Leider geil“ wurde vom Bundesverband Musikindustrie mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet. Der Tech-Rap, Punk und die basslastigen Beats der mittlerweile acht Band-Platten sind geprägt von ironischen Lyrics. Es gab Wechsel in der Band-Besetzung und Produzent Sebastian „Sebi“ Hackert verstarb 2009. Einige der bunt durchmischten Konzertbesucher gehören zur Deichkind-Fangemeinde der ersten Stunde. Sie alterten zusammen mit der Band, so trifft es sich gut, dass Deichkind auch ihre diesjährige Deutschlandtournee unter das Motto Kids in meinem Alter stellen.
Auf dem Bonner Kunstrasen bebt und vibriert der Boden von den hüpfenden Fans. Die Bühne ist vor Beginn hinter einem riesigen Vorhang verborgen, auf dem gegen 20 Uhr die Bandmitglieder als übergroße Silhouetten sichtbar werden. Die norddeutsche Rap-Formation um Bandgründer Philipp Grütering alias Kryptik Joe, Sebastian Dürre alias Porky und Henning Besser alias La Perla erweitern zahlreichen Teamkollegen wie Tänzer, Rapper und Akteure für die Live-Show. Gleich zu Beginn fordern Deichkind ihr Publikum auf: „Alle Hände hoch!“ Die Musik kommt größtenteils von Band. Zu Beginn begrüßt David Mayonga, bei Deichkind besser bekannt als Roger Rekless, das Publikum salopp aber herzlich mit einer kurzen Absprache über dunkle Zeiten in unserer Gegenwart: „Man meint ja, es gebe nur noch Axxxxlöcher, etwa wenn man die Nachrichten schaut. Aber es gibt ja auch noch euch und wir feiern hier heute trotzdem.“
Choreographische Einlagen in verschiedenen aufwendigen Hintergrund-Sets halten in Atem. Ferngesteuerte, umherfahrende Blöcke wechseln die Positionen. Die Rapper und Tänzer halten Leuchtstäbe in ihren Händen und tragen ausgefallene Kostüme wie digital blinkende, geometrische Tetraeder-Hüte und komische Brillen. Zu „Auch im Bentley wird geweint“ fährt ein komplett vermummter Sänger Rodeo auf einer Gucci-Handtasche, während die anderen um ihn herum kunstvoll kreisen. Über die feiernde Menge schießen die Künstler regelmäßig Luftschlangen. Für ein Erinnerungsfoto mit der Menge packt Bandchef Kryptik Joe umständlich ein metergroßes Mega-Smartphone mit Giga-Selfiestick aus. Das Ensemble freut sich über den kreiselnden Moshpit und die Pogos unter den Konzertbesuchern. Weiter rechts vor mir kippt ein Konzertbesucher mit seiner Freundin auf den Schultern nach hinten weg. Die umstehenden Konzertbesucher helfen beiden wieder auf und alle wippen weiter zum Beat. In einer Bühnenpause probiert sich ein Konzertbesucher im Crowdsurfing und auch ich hebe ihn durch die Menge.
Zu „Roll das Fass rein“ und „Niveau Weshalb Warum“ wird ein Riesenfass durch die Menge der Arena gezogen. Zwei Rapper wippen im, mit Camouflage-Grundierungen bemaltem Holzfass; einer schwingt, obenauf sitzend, eine riesige Fahne über die tobende Menge. Auf der Fahne steht geschrieben: „Opas gegen Rechts“. Ein Verweis auf den bekannten Verein Omas gegen Rechts, der jüngst lautstark und medienwirksam gegen das im Freien an der Spree geführte ARD-Sommerinterview mit Alice Weidel protestierte. Weidel ist Co-Chefin der größten Oppositionspartei AfD, die vom Bundesverfassungsschutz als ‚gesichert rechtsextremistisch‘ eingestuft wurde. Bemerkenswert hellsichtig auch die Politbotschaft beim Song „Arbeit nervt“, wenn die sieben Buchstaben auf den Stuhlrückseiten in Reihenfolge sichtbar werden: „F“, „U“, „C“, „K“, „A“, „F“, „D“.
Ein weiteres Highlight ist der Vortrag von „Bück dich Hoch“. Sieben Deichkind-Männer führen eine kreiselnde und surfende Choreographie auf Bürostühlen zur Karrieristen-Hymne für duckmäuserische Diener vor. Während dieses Songs ergießt sich ein stärkerer Regenschwall vom verdüsterten Himmel. Immerhin ebbt der Starkregen schnell ab und es geht kein Scottish Summer nieder, wie noch anno 2017 beim legendären Amy Macdonald-Konzert auf dem KunstRasen.
Mit dem performten Lied „Könnt ihr noch?“ verweisen Deichkind auf die Klimakrise und die aktuellen Kriege, wie etwa den russischen, völkerrechtswidrigen Angriffskrieg innerhalb Europas. Auch in „Die Welt ist fertig“, den die Hip-Hop-Pioniere vor begeistertem Publikum performen, geht es um die Erschöpfung der Erdressourcen.
Crowdsurfing schließlich auf besondere Art: Gegen Ende hopst zu „Remmidemmi (Yippie Yippie Yeah)“ aus dem Album Aufstand im Schlaraffenland (2009) ein Rapper in Badehose auf einem wippenden 30-Mann-Schlauchboot. Das Boot, geformt wie ein Schwimmreifen, und seinen wippenden Insassen sehe ich mehrfach durch den durchsichtigen Boden von unten und hebe es zwangsläufig mit den anderen durch die Menge. Bewaffnet mit einem großen Kissen, entlässt der Rapper viele weiße Federn in das Publikum. Zu guter Letzt befragt die Band das Durchhaltevermögen seines Publikums wie bei einer Challenge. Es treten ganz viele bunte Kostümträger mit Requisiten auf die Bühne und es werden Ringelreigen getanzt.
Ein euphorisierender Exzess entlädt sich in lauten Hall-Vibrationen. Deichkind lobt sein Bonner Publikum: Tags zuvor hätten sie in Cuxhaven auf dem Deichbrand Festival vor 40.000 Leuten gespielt. Aber auf dem KunstRasen waren die wenigeren Besucher dafür viel energiegeladener. Der mitreißende Gig voll schriller Outfits und Choreographien endet nach knapp zwei Stunden mit einem fallenden Vorhang und der Aufschrift „Gute Nacht Kinder!“ Polit-Sidekick: Vorne wurde zuvor noch eine Pappmache-Puppe platziert, die den US-amerikanischen Politiker Bernie Sanders mit Corona-Maske ähnlich sieht. An Sanders Sitz hängen schwebende Helium-Luftballons mit den Buchstaben „Leider Geil“, der wohl bekannteste Song der Hanseaten. Anlässlich der gegenwärtigen Trump-Regentschaft lassen weitere kommentierende Verse von Deichkind auf sich hoffen.
Bilder: Bonn.digital/Marc John