
Am 14. September ist Kommunalwahl, und das bedeutet für Bonn: Sie steht quasi vor der Tür. Das liegt daran, dass man in Bonn bereits drei Monate vor der Wahl mit dem Wahlkampf beginnen darf, und folgerichtig die großen Parteien in der Nacht auf den 14. Juni ihre Plakate an die Bonner Laternen gehangen haben. In anderen Städten und Gemeinden ist dies häufig erst ab zwei Monaten vor der Wahl erlaubt. Das erklärt im übrigen auch, warum ein Stand der Grünen mir am 04. Juni auf die Frage, ob man denn schon im Wahlkampf sei, oder warum man da stehe, mit einem klaren „Nein“ antwortete. Keineswegs sei man bereits im Wahlkampf, man sei ein Stand der Grünen Ratsfraktion die über ihre Arbeit berichte, und explizit nicht im Kommunalwahlkampf. Anders als von den Grünen – und auch den sonstwie gefärbten – Ratsfrauen und Ratsherren wird die Kommunalwahl jedoch von vielen Bürgern mit wenig Interesse bedacht. Das sieht man auch an der Wahlbeteiligung: In der letzten Kommunalwahl lag sie bei 57,07%, im Gegensatz zu 84,88% für die Bundestagswahl Anfang diesen Jahres.
Dabei sind die Kommunalwahlen wichtig. Viele Dinge, die unseren Alltag beeinflussen, werden in der Kommune entschieden – und Kommunalpolitik ist oft konkreter als die grundsätzlichere Politik in Bund und EU. Und: In der Kommunalwahl hat man deutlich größeren Einfluss. Während man in der letzten Bundestagswahl einer oder eine von 60,5 Millionen potentiellen Wählenden war, sind es bei der Ratswahl nur 250 Tausend Wählende. Eine Stimme im Bund macht also 0,00000165% des Ergebnisses aus bei der Bonner Wahl 0,0004%. Diese Differenz steigt noch, wenn man die unterschiedliche Wahlbeteiligung mit einrechnet.
Die geringere Zahl an Wählenden sorgt aber gleichzeitig dafür, dass es schwieriger ist, eine Wahlprognose abzugeben. Im Bund entstehen Prognosen durch Umfragen. Einer Stichprobe von Personen wird die Frage gestellt „Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre…?“. Das Umfrageinstitut infratest dimap richtet diese Sonntagsfrage an „bis zu 1500 Personen“ pro Umfrage, und ist dabei, nach eigener Aussage, „repräsentativ, da unsere Stichproben sehr genau die gesamte wahlberechtigte Bevölkerung abbilden.“ Das machen die aber nicht aus reiner Herzensgüte, sondern mit einem wirtschaftlichen Interesse. Für den Bund scheint das zu funktionieren, immerhin gibt es noch zahlreiche weitere Institute die eine hohe Nachfrage nach Umfragen sättigen. Landesumfragen erscheinen in größerem zeitlichen Abstand – die Nachfrage ist geringer. Und Kommunalumfragen gibt es garnicht. In NRW gibt es 396 Kommunen. Der Aufwand in jeder dieser Kommunen 1000 Wählende zu befragen, noch dazu so, dass die gesamte Zahl der Wählenden repräsentativ abgebildet wird, ist schlicht nicht wirtschaftlich. Denn anders als die Bundesumfragen, besteht in den Kommunen auch keine Nachfrage. Die öffentlich-rechtlichen, die die infratest Umfragen in Auftrag geben, können nicht über fast 400 Kommunalumfragen berichten. Und die ohnehin seit Jahren schwächelnde Lokalpresse kann sich solche Umfragen erst recht nicht leisten. An infratest dimap zahlt die ARD für ihren Fünfjahresvertrag mehrere Millionen Euro. Umfragen auf Kommunal oder Wahlkreisebene gibt es also nicht.
„Aber Moment, habe ich nicht Wahlkreisumfragen gesehen?“ Nein. Haben Sie nicht. Auf jeden Fall nicht in Bonn. Tatsächlich gibt es Anbieter, die anbieten, Umfragen durchzuführen. Die Ergebnisse werden dann aber in der Regel nicht öffentlich. Für Bonn ist mir keine solche Umfrage bekannt, weder für die Kommunalwahl noch für die Bundestagswahl im Februar. Was es für die Bundestagswahl gab, und für die Kommunalwahl vielleicht geben wird, sind Prognosen: Hochrechnungen, die versuchen den Bundestrend auf Wahlkreise umzurechnen. Dabei ist aber oft nicht ganz transparent, wie das genau funktioniert. Ein solcher Anbieter rechnete etwa mit ein, ob der Wahlkreiskandidat einen Doktortitel hat oder nicht. Solche Prognosen werden zudem selten aktualisiert, und ob Bundestagswahlkandidat Streeck einen Doktortitel hat, ist für die Kommunalwahl auch nicht gerade ausschlaggebend.
Muss man also völlig ohne Prognosen auskommen? Nein. Ganz blind fliegt die Lokalpolitik nicht, und ganz blind müssen auch wir nicht bleiben. Natürlich ergeben sich aus der Kombination von Bundestrends und den Abweichungen in Bonn zum Bund bei vorherigen Wahlen gewisse Tendenzen. Diese sind in informierten Kreisen natürlich bestens bekannt. Ob in denWahlkampfteams von Dörner, Deus und co. auch mathematische Modelle angelegt werden, weiß ich nicht. Ein paar Berechnungen will ich aber hier anstellen, um selbst eine Prognose angeben zu können.
Da alle Umfragen nur bundesweit durchgeführt werden, sollte man zunächst die Differenz von Wahlergebnissen in Bund und Bonn betrachten. Es gibt zwei Arten von bundesweiten Wahlen, die Bundestagswahl und die Europawahl. Legt man die bundesweiten und die lokalen Bonner Ergebnisse bei den Wahlen nebeneinander, erkennt man gewisse Trends: Die Grünen sind beispielsweise in Bonn deutlich stärker als bundesweit, bei den letzten Wahlen waren es etwa 10 Prozentpunkte mehr. Die SPD schneidet auf beiden ebenen fast identisch ab. Die CDU ist dafür in Bonn schwächer. Man erkennt aber auch, dass sich die Bundestrends in Bonn bei der CDU nicht so deutlich widerspiegeln wie bei den anderen Parteien. Bundesweit hat die Union bei der Europawahl 2024 besser abgeschnitten, als bei der Bundestagswahl 2025, in Bonn war die CDU aber in der Bundestagswahl stärker.

Viele dieser Unterschiede folgen größeren Trends. Die Grünen schneiden bundesweit in städtischen Wahlkreisen besser ab als in ländlichen, sind im Westen stärker als im Osten. Für die AfD, die in Bonn deutlich schwächer ist als Bundesweit, gilt das Gegenteil. Sie ist auf dem Land und in den östlichen Bundesländern stark. Anstatt die Ergebnisse nebeneinander zu legen, kann man sie aber auch versuchen aus einander zu berechnen. Die Frage ist also, wenn im Bund ein Ergebnis X eintritt, wie ist dann das Ergebnis Y in Bonn? Visualisiert heißt das, die einzelnen Ergebnisse auf einem Graph einzutragen, dessen horizontale Achse das Bundesergebnis und die vertikale das Bonner Ergebnis zeigt. Lägen diese Punkte exakt auf einer Linie, könnte man so auch eine exakte Umrechnung vornehmen. Da sie das nicht tun, muss eine Gerade gefunden werde, die möglichst nah an den einzelnen Datenpunkten liegt. An dieser Stelle die Beispiele für SPD und die Grünen.


Mit nur 6 Datenpunkten seit 2014 (drei Europa- und drei Bundestagswahlen), bleibt die ganze Rechnung natürlich etwas fragwürdig. Da sich die Parteienlandschaft aber in den letzten 10 Jahren stark verändert hat, bekämen wir keine sichereren Werte, wenn wir das Modell um vorangegangene Wahlen ergänzen würden. Die Annäherung hat aber noch eine Reihe weiterer Probleme: Sie geht zum Beispiel davon aus, dass die Menschen bei allen Wahlen gleich wählen, und nicht bei der Kommunalwahl anders entscheiden als im Bund, weil es eine Kommunalwahl ist. Klein- und Lokalparteien, wie VOLT und der BBB, die beide im Stadtrat vertreten sind, werden durch das Modell nicht abgedeckt, werden aber im September eine Rolle spielen, nicht zuletzt da die Ratswahlen keine Sperrklausel (= 5%-Hürde) haben. Und das Modell geht vonWahlergebnissen, nicht von Umfragen aus, die aber nochmal ihre eigenen Ungenauigkeiten mitbringen. Im Februar lagen die letzten Umfragen etwa einen Prozentpunkt neben dem tatsächlichen Ergebnis der Wahl.
Wenn man in diese Modelle nun die Umfrageergebnisse vom 14.09.2020, also am Tag der letzten Kommunalwahl einfügt, ergibt sich für die SPD ein Ergebnis von 16,4%. Tatsächlich erreichten die Sozialdemokraten bei der Ratswahl 15,6%. Für die Grünen ergeben sich 31,5%, tatsächlich erreichten sie aber nur 27,9%. Die Linke ist mit errechneten 5,5% und tatsächlichen 6,2% wieder näher dran. Die größte Abweichung gibt jedoch die CDU, die laut Berechnungen 30,6% hätte bekommen müssen, aber nur 25,7% bekam. Das lässt sich meiner Meinung nach jedoch durch den BBB erklären, der ebenfalls konservative Wählenden anspricht. Unter der Annahme, Wählende des BBB wählten in Wahlen, wo der Bürgerbund nicht antritt, CDU, könnte man die beiden addieren und käme auf 32,7% – was wieder recht nah am erwarteten Ergebnis von 30,6% liegt.

Füttert man das Modell mit aktuellen Umfragewerten, ergibt sich nun folgende Prognose (mit Standardabweichung) für die Kommunalwahl:
- CDU*: 24,4% (+/-1,5%)
- SPD: 15,3% (+/-1,4%)
- B’90/Grüne: 20,4% (+/-2,2%)
- FDP: 5,9% (+/-1,6%)
- AfD: 9,1% (+/-0,9%)
- LINKE: 10,7% (+/-1,5%)
- Sonstige: 14,3%
Es ist wieder zu erwarten, dass auch hier im errechneten CDU-Ergebnis, das für den BBB mit enthalten ist.
In der Tendenz würde sich hieraus ein mögliches fortbestehen der aktuellen Ratskoalition ergeben (Grüne+SPD+Linke+Volt), aber auch andere Mehrheiten wären möglich (etwa Schwarz/Grün). Das hängt nicht unwesentlich vom Ergebnis der Wahl des Oberbürgermeisters ab, die nochmal stärker von den Bundesergebnissen abweicht. In Anbetracht der gerade berechneten Prognose kann man allerdings mit einer Stichwahl CDU (Déus) gegen Grüne (Dörner) am 28.09. rechnen. Ob Katja Dörner in dieser dann ihr Amt verteidigen kann, weil die Prognosen ja eine Mehrheit der Kräfte Links der Mitte zeigen, oder ob Deus mit Stimmen der SPD das Bürgermeisteramt zurück in die Reihen der CDU holt? Diese Vorhersage sei nun jedem selbst überlassen.
Die Prognosen bestehen in jedem Fall aus vielen Wenns und Vielleichts. Bis zur Wahl sind es noch weit über zwei Monate in denen sich die Umfragen verändern werden. Die Ungewissheit solcher Rechnereien sollte Ihnen jedoch in jedem Fall bewusst geworden sein, und bewusst bleiben, wenn Sie wieder Prognosen für Ihren Wahlkreis lesen. Und wer jetzt schon ein festes Ergebnis prophezeit, sagt damit eigentlich, was die Kandidaten für Amt und Rat in den nächsten Wochen tun und sagen, wäre gänzlich irrelevant. Individuelles Können spielt in diesem Modell nämlich überhaupt keine Rolle. Von diesem Können wollen wir uns aber in den nächsten Wochen erst noch überzeugen, bevor es an die Wahlurne geht. Dabei sei an dieser Stelle noch darauf verwiesen, dass die OB-Kandidaten alle nacheinander zu mir und meinen Kollegen ins Bonner Duett kommen werden und dort Rede und Antwort stehen, aber auch Bundesstadt.com hat schon mit den Top-Kandidaten gesprochen und wird auch darüber hinaus weiter informieren. Und zu guter Letzt: Gehen Sie wählen!
Ich bedanke mich bei Moritz und Nathan, die mir beim Rechnen geholfen haben.
Zum Autor: Marlon Zewen studiert an der Universität Bonn Alte Geschichte, Klassische Philologie, Komparatistik und Kunstgeschichte. Zusammen mit Nicolas Cavagnet sowie weiteren Kollegen gestaltet er das Bonner Duett, ein lokaljournalistisches Interviewformat.