Fi­de­lio er­öff­net das Beet­ho­ven­jahr in der Ge­burts­stadt des Kom­po­nis­ten an der Oper Bonn. Re­gis­seur Vol­ker Lösch be­leuch­tet in sei­ner In­sze­nie­rung auch die Si­tua­ti­on po­li­ti­scher Ge­fan­ge­ner in der Türkei

Vor der Bon­ner Oper par­ken meh­re­re Po­li­zei­au­tos. De­mons­tran­ten zei­gen vorm Ein­gang Fo­to­ta­feln von Per­so­nen, die ent­we­der in der Tür­kei im Ge­fäng­nis sit­zen oder durch die Po­li­tik des tür­ki­schen Staats er­mor­det wur­den: He­vrîn Xelef, Fi­gen Yük­s­ek­dağ und Se­la­hat­tin Demir­taş, Gül­tan Kışa­nak, Sa­ki­ne Can­sız, Fi­dan Doğan und Ley­la Şay­le­mez, Aziz Oruç, Ho­zan Canê und Gönül Örs, um nur zehn zu nen­nen. Es wer­den Flug­blät­ter ver­teilt mit der Auf­schrift „De­mo­kra­tie hin­ter Git­tern – De­mo­kra­tie un­ter Be­schuss. Den Krieg des tür­ki­schen Staa­tes ge­gen die De­mo­kra­tie be­en­den!“ Im Ein­gangs­be­reich des Opern­hau­ses wer­den Un­ter­schrif­ten für po­li­ti­sche Häft­lin­ge in der Tür­kei gesammelt. 

FI­DE­LIO an der Oper Bonn | Fo­to (c) Thi­lo Beu

Lud­wig van Beet­ho­ven (1770-1827) ver­trat frei­heit­li­che und de­mo­kra­ti­sche Wer­te. Sei­ne ein­zi­ge Oper Fi­de­lio (1805) ist so ein Plä­doy­er für Mei­nungs­frei­heit und ge­gen Un­ter­drü­ckung und Staats­will­kür. Re­gis­seur Vol­ker Lösch nutzt die of­fe­ne Struk­tur der Frei­heits­oper, um das viel­dis­ku­tier­tes The­ma der po­li­ti­schen Ver­fol­gung in der Tür­kei zu pro­ble­ma­ti­sie­ren. Es geht um die Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen durch Prä­si­dent Er­doğan und das Ver­hält­nis zwi­schen der Tür­kei und Deutsch­land seit dem Völ­ker­mord an den Ar­me­ni­ern. Auch in Russ­land oder Chi­na herr­schen re­pres­si­ve au­to­kra­ti­sche Un­rechts­sys­te­me, doch mit der Tür­kei pflegt Deutsch­land be­son­ders in­ten­si­ve Wirt­schafts­be­zie­hun­gen und es le­ben über drei Mil­lio­nen Men­schen mit tür­ki­schen Wur­zeln hier.

Wäh­rend der Ou­ver­tü­re wer­den Film­aus­schnit­te über die po­li­ti­sche Ent­wick­lung der letz­ten fünf Jah­re in der Tür­kei ge­zeigt, z.B. vom Putsch­ver­such Som­mer 2016, von De­mons­tra­tio­nen und Kriegs­ge­sche­hen. Span­nungs­vol­le­re, dicht or­ches­trier­te mu­si­ka­li­sche Pas­sa­gen wer­den fil­misch mit Kriegs­hand­lun­gen un­ter­malt, wäh­rend bei den hei­te­re­ren Mu­sik­pas­sa­gen ein jun­ges Paar beim Ein­kaufs­bum­mel in Bonn ge­zeigt wird. Ge­gen­über­stel­lun­gen von un­be­schwer­ten All­tags­si­tua­tio­nen in Deutsch­land und do­ku­men­ta­ri­schen Auf­nah­men von Ge­walt in der Tür­kei be­glei­ten die ge­sam­te Inszenierung. 

Die klas­si­sche Fi­de­lio-Hand­lung spielt sich im lin­ken Be­reich der Büh­ne ab: Leo­no­re ver­klei­det sich als Mann, um ei­nen Zu­gang zum Ge­fäng­nis­wär­ter zu er­lan­gen. Ihr Ziel ist es, zu ih­rem Ehe­mann, dem po­li­ti­schen Häft­ling Flo­re­stan, zu ge­lan­gen. Sei­ne re­gime­kri­ti­sche Mei­nung führ­te ihn auf di­rek­tem We­ge in das Gefängnis. 

FI­DE­LIO an der Oper Bonn | Fo­to (c) Thi­lo Beu

Das Büh­nen­bild der Fi­de­lio-Hand­lung do­mi­niert ei­ne Green-Box, wie im Film­set ei­nes Nach­rich­ten­stu­di­os. Der tat­säch­li­che grü­ne Hin­ter­grund wird vi­deo­tech­nisch ent­fernt und auf ei­ner gro­ßen Lein­wand ober­halb der Büh­ne durch ei­nen an­de­ren Hin­ter­grund er­setzt: Die agie­ren­den So­lis­ten wer­den auf der Büh­ne von zwei Ka­me­ra­leu­ten vor grü­nem Hin­ter­grund ge­filmt und live auf den Groß­bild­schirm an der Büh­nen­rück­sei­te über­tra­gen. Dort wer­den sie in ei­nen Hin­ter­grund­film ein­ge­fügt, so­dass sie mal flie­gend oder in ei­ner Kriegs­sze­ne er­schei­nen. Mehr noch: die Dar­stel­ler der Ge­fan­ge­nen (Flo­re­stan und der Ge­fan­ge­nen­chor) ver­schwin­den selbst hin­ter ei­ner grü­nen Farb­schicht auf den Ge­sich­tern und wer­den da­durch auf dem Bild­schirm un­sicht­bar und nur noch an ih­ren Um­ris­sen er­kenn­bar: ei­ne mas­ken­bild­ne­ri­sche Um­set­zung des Ver­schwin­dens von Menschen.

Bei Ri­chard Wag­ners Opern­wer­ken ist es schon bei­na­he Usus, sei­ne Stü­cke in neue und mo­der­ne Zu­sam­men­hän­ge zu stel­len. Un­ge­wöhn­li­cher ist es je­doch das ein­zi­ge Werk ei­nes gro­ßen Säu­len­hei­li­gen der Klas­sik, Beet­ho­ven, mit dras­ti­schen Bil­dern, Fil­men und Be­rich­ten zu kon­fron­tie­ren – über un­mensch­li­che, de­mo­kra­tie­ver­ach­ten­de Ge­scheh­nis­se in der Türkei. 

FI­DE­LIO an der Oper Bonn | Fo­to (c) Thi­lo Beu

Auf der rech­ten Sei­te der Büh­ne be­fin­det sich ein Tisch, an dem durch­ge­hend fünf Tür­kIn­nen sit­zen, vier da­von mit kur­di­schem Hin­ter­grund. Ei­ne von den Per­so­nen ist Doğan Akh­an­li, der selbst mehr­fach in der Tür­kei in­haf­tiert und ge­fol­tert wur­de und der 2019 die Goethe-Medaille er­hielt. Die ur­sprüng­li­chen Libretti-Sprechtexte Jo­seph Sonn­leit­h­ners und Ge­org Fried­rich Treit­sch­kes zwi­schen den Ari­en und Chö­ren wur­den ge­stri­chen. Zeit­zeu­gen spre­chen statt­des­sen über in der Tür­kei in­haf­tier­te Per­so­nen des öf­fent­li­chen Le­bens, wie den stell­ver­tre­ten­den HDP-Vorsitzenden Se­la­hat­tin Demir­tas, die Sän­ge­rin Ho­zan Ca­ne und Soy­dan Akay. Die Zeit­zeu­gen – u.a. auch Ha­kan Akay, Sü­ley­man Demir­tas, Agît Ke­ser und Dîlan Ya­zıcıo­g­lu – wer­den von ei­nem eben­falls am Tisch plat­zier­ten Mo­de­ra­tor (Mat­thi­as Kel­le) be­fragt. Die in Deutsch­land le­ben­den Men­schen er­zäh­len von ei­ge­nen er­schüt­tern­den Er­fah­run­gen in der Tür­kei und kri­ti­sie­ren das am­tie­ren­de Regime. 

Hier be­zieht Re­gis­seur Lösch – wie schon bei zu­vor ge­zeig­ten Pro­duk­tio­nen am Thea­ter Bonn – be­trof­fe­ne Per­so­nen selbst in die In­sze­nie­rung mit ein. Im Wech­sel mit den Opern-Szenen ste­hen die am Tisch An­we­sen­den so ne­ben dem Chor, den So­lis­ten und den Schau­spie­lern im Hand­lungs­zen­trum. Es wird über will­kür­li­che Ver­haf­tun­gen, Fol­ter und lang­jäh­ri­ge Ge­fäng­nis­stra­fen für po­li­tisch Miss­lie­bi­ge be­rich­tet. Frau­en wur­den an ih­ren Haa­ren auf­ge­hängt, Män­ner wur­den durch Was­ser­wer­fer an ih­ren Ge­ni­ta­li­en ver­letzt. Vie­le po­li­ti­sche Ge­fan­ge­ne wur­den bei die­sen Tor­tu­ren ohn­mäch­tig. Auch die Opern­dar­stel­ler sit­zen mit am Tisch und be­ra­ten über die The­men Ge­fan­gen­schaft und Be­frei­ung. Et­wa vier­zig Pro­zent der In­sze­nie­rung do­mi­niert die­se Dis­kus­si­ons­run­de, die die Opern­hand­lung mit manch­mal har­ten Schnit­te unterbricht.

Das Beet­ho­ven Or­ches­ter leuch­tet die Par­ti­tur fa­cet­ten­reich aus. Tho­mas Mohr singt Flo­restans be­rühm­te Arie „Gott, welch Dun­kel hier“ mit aus­drucks­stark strah­len­dem Hel­den­te­nor. Mar­ti­na Wel­schen­bach ver­kör­pert die Leo­no­re ele­gant mit lyrisch-dramatischem und fo­kus­sier­tem So­pran. Karl-Heinz Leh­ner mimt den zwi­schen Ob­rig­keits­hö­rig­keit und Schuld­ge­füh­len sich win­den­den Ker­ker­meis­ter Roc­co mit voll­tö­nen­dem Bass. Mark Mo­rou­se gibt den Pi­zar­ro selbst­herr­lich, macht­be­wusst und for­ciert mit ro­bus­tem Hel­den­ba­ri­ton. Auch Loui­se Ke­mé­ny ge­stal­tet Roc­cos Toch­ter Mar­zel­li­ne aus­drucks­stark mit glän­zen­dem Koloratursopran.

Der Trom­pe­ten­stoß er­tönt aus ei­ner Lo­ge und der Mi­nis­ter (Mar­tin Tzo­nev), der den Ge­fan­ge­nen Flo­re­stan be­freit, agiert zu­nächst aus dem Pu­bli­kums­be­reich, be­vor er die Büh­ne be­tritt. Bei uns, dem Volk al­so liegt die Macht, mög­li­che Un­ge­rech­tig­keit ab­zu­wen­den und zu Un­recht Ge­fan­ge­ne zu be­frei­en. Von den Dar­stel­lern in die Hö­he ge­hal­te­ne Ban­ner for­dern zu gu­ter Letzt da­zu auf, sich an Ak­tio­nen für po­li­tisch In­haf­tier­te zu beteiligen. 

FI­DE­LIO an der Oper Bonn | Fo­to (c) Thi­lo Beu

Die Bun­des­wehr soll­te end­lich von tür­ki­schem Staats­ge­biet ab­ge­zo­gen wer­den und es muss ei­nen Ex­port­stopp von Lie­fe­run­gen deut­scher Waf­fen an die Tür­kei ge­ben. Ein Drit­tel des ge­sam­ten Rüs­tungs­expor­tes lie­fert Deutsch­land an die Tür­kei. 2018 wa­ren das Rüs­tungs­gü­ter im Wert von knapp ei­ner vier­tel Mil­li­ar­de Eu­ro und 2019 war es so­gar deut­lich dar­über. Die Zahl der Ex­port­ge­neh­mi­gun­gen von Rüs­tungs­gü­tern an die Tür­kei hat sich im Jahr 2019 ge­gen­über dem Vor­jahr mehr als ver­drei­facht. Dies al­les ob­wohl Er­do­gan po­li­ti­sche Geg­ner und Men­schen­rechts­ak­ti­vis­ten gna­den­los ein­sper­ren lässt und völ­ker­rechts­wid­ri­ge An­grif­fe star­tet auf die von der Na­to (bis­lang USA und Deutsch­land) un­ter­stütz­te kur­di­sche YPG-Miliz (der es zu­vor ge­lun­gen ist den IS zu be­kämp­fen). So zwingt der tür­ki­sche Prä­si­dent Er­do­gan er­neut hun­dert­tau­sen­de Men­schen aus bis­lang si­che­ren Ge­bie­ten zur Flucht. Auf­grund des von der EU mit der Tür­kei 2016 aus­ge­han­del­ten Flücht­lings­deals kann Er­do­gan die Kriegs­ver­trie­be­nen nun ge­schickt Rich­tung Eu­ro­pa len­ken, um die­sem „Part­ner“ ge­gen­über sei­ne po­li­ti­schen In­ter­es­sen mit Druck durch­zu­set­zen. Das al­les ge­schieht, wäh­rend Deutsch­land und Bonn zum 250. Ge­burts­tag Lud­wig van Beet­ho­ven auch als Schöp­fer die­ser „Be­frei­ungs­oper“ fei­ern. Die­sen Wi­der­spruch auf die Büh­ne ge­bracht zu ha­ben ist das gro­ße Ver­dienst von Vol­ker Lösch.

Ein mu­ti­ges und ge­lun­ge­nes thea­tra­les Ex­pe­ri­ment, das auch dank der Un­ter­stüt­zung durch die BTHVN-Jubiläumsgesellschaft so opu­lent um­ge­setzt wer­den konnte. 

FI­DE­LIO (Oper Bonn, 4.1.2019)

Mu­si­ka­li­sche Lei­tung: Dirk Kaftan

In­sze­nie­rung: Vol­ker Lösch

Büh­ne: Ca­ro­la Reuther

Kos­tü­me: Ali­s­sa Kolbusch

Vi­deo­de­sign: Chris­to­pher Kon­dek, Ruth Stofer

Licht: Max Karbe

Dra­ma­tur­gie: Ste­fan Schna­bel, Bern­hard Helmich

Re­cher­che: Kris­ti­na Wydra

Chor­ein­stu­die­rung: Mar­co Medved

Be­set­zung:

Roc­co, Ker­ker­meis­ter … Karl-Heinz Lehner 

Don Fer­nan­do, Mi­nis­ter … Mar­tin Tzonev

Don Pi­zar­ro, Gou­ver­neur ei­nes Staats­ge­fäng­nis­ses … Mark Morouse

Flo­re­stan, ein Ge­fan­ge­ner … Tho­mas Mohr

Leo­no­re, sei­ne Ge­mah­lin un­ter dem Na­men „Fi­de­lio“ … Mar­ti­na Welschenbach

Mar­zel­li­ne, Roc­cos Toch­ter … Loui­se Kemény

Ja­qui­no, Pfört­ner … Kier­an Carrel

1. Ge­fan­ge­ner … Jae Ho­on Jung

2. Ge­fan­ge­ner … Ni­cho­las Probst

Re­gis­seur … Mat­thi­as Kelle

Live-Kamera … Krzy­sz­tof Ho­now­ski, Ri­kisa­bu­ro Sa­to, Chan­tal Bergemann

Zeit­zeu­gin und Zeit­zeu­gen: Ha­kan Akay, Doğan Akh­an­lı, Sü­ley­man Demir­taş, Agît Ke­ser, Dîlan Yazıcıoğlu

Chor des Thea­ter Bonn

Ex­tra­chor des Thea­ter Bonn

Sta­tis­te­rie des Thea­ter Bonn

Beet­ho­ven Or­ches­ter Bonn

Pre­mie­re am Bon­ner Opern­haus war am 1. Ja­nu­ar 2020. 

Nächs­te Ter­mi­ne: 16., 24.1./ 2., 9., 15.2./ 14., 27.3.2020

[Hin­weis: die meis­ten Vor­stel­lun­gen sind be­reits aus­ver­kauft; al­le Fo­tos (c) Thi­lo Beu]

Wei­te­re Infos

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