Von den Bonner Direktkandidatinnen und -kandidaten, die dieses Jahr zur Bundestagswahl antreten, dürfte Alexander Graf Lambsdorff der bekannteste sein. Seit vier Jahren ist er Mitglied des Bundestags, davor war er viele Jahre Abgeordneter im Europäischen Parlament, zuletzt als Vizepräsident. Lambsdorff traf sich digital mit Ansgar Skoda und Johannes Mirus. Wir sprachen über Außenpolitik, Katastrophenschutz, Digitalisierung, Steuern und natürlich Bonn.

Bundesstadt.com: Welche Gefahren sehen Sie im Erstarken von China als Weltmacht?

Alexander Graf Lambsdorff: Der große (Wieder-)Aufstieg Chinas ist ja nicht etwas Wertfreies. Es ist der Aufstieg eines Landes, in dem die Freiheit mit Füßen getreten wird, in dem schwerste Menschenrechtsverletzungen vorkommen, in dem Minderheiten unterdrückt werden. Der Ausbau der „Belt and Road Initiative“, früher „Neue Seidenstraße“, spaltet die Europäische Union. Wir haben es hier mit dem Aufstieg einer autoritären, unfreien Gesellschaft zu tun, für den wir uns als Demokraten wappnen müssen.

War der Brexit eine Folge der Spaltung der Europäischen Union?

Ich würde die Entwicklungen nicht direkt gleichsetzen, aber man kann durchaus eine Verbindung herstellen. Der Brexit hat uns als Europäische Union aus Sicht der Partner geschwächt. Großbritannien ist ein wichtiges Land, G7- und Nato-Mitglied. Es ist mit Boris Johnson auf Abwege geraten. Eine unerfreuliche Gesamtkonstellation.

„Es wird eine große Auseinander­setzung zwischen der westlichen Welt und China mit Russland geben“

Droht die Welt, mit Russland, China und der westlichen Welt in eine Art Drei-Fronten-Konfrontation zu geraten?

Es wird eine große Auseinandersetzung im 21. Jahrhundert geben zwischen den Ländern, deren Verfassung auf Freiheit beruht – das nenne ich den „globalen Westen, zum Beispiel Australien, Japan, USA und die Europäische Union – und China mit Russland, die sich auch immer stärker annähern. Diese Hinwendung Russlands zu China ist – und das sage ich als Freund Russlands – gar nicht in deren Interesse. Das Land, das traditionell immer stark Richtung Europa orientiert war, wird als China untergeordnetes Land keine strahlende Zukunft haben.

Warum ist das so, dass sich Russland von Europa weg orientiert?

Der Grund ist der Machterhaltungstrieb einer leider ziemlich korrupten Elite. Das Problem in Diktaturen ist, dass Sie keinen geregelten Übergang zum Nächsten haben. Wladimir Putin hat sich inzwischen in eine Position manövriert, in der er jemanden finden müsste, der ihm Amnestie erteilt, um nicht wegen Korruption vor Gericht zu landen. Da das nicht absehbar ist, gibt es wenig Interesse, mit Ländern zusammenzuarbeiten, die Werte wie Pressefreiheit und faire, demokratische Wahlen hochhalten.

Deutschland steht zumindest beim Thema „Nord Stream 2“ zwischen den Stühlen. Wie faul ist der Kompromiss, der jetzt getroffen wurde?

Nord Stream 2 ist ein geopolitisches Projekt Russlands, das darauf abzielt, die Ukraine unter Druck setzen zu können. Es ist – anders, als die Bundeskanzlerin, Gerhard Schröder oder die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern Manuela Schwesig behaupten – kein privatwirtschaftliches Projekt. Die Klausel in dem Abkommen, dass man die Nutzung der Pipeline sperren wird, wenn Russland sie als Waffe gebraucht, zeigt ja deutlich, wie geopolitisch das Thema ist. Es wird uns erhalten bleiben und uns noch große Schwierigkeiten bereiten.

„Die EU ist ein politisches Projekt ersten Ranges“

Bereits 2015 forderten Sie, den EU-Beitritt der Türkei zu beenden. Warum?

Die Forderung ist sogar noch älter. Ich halte die Europäische Union für ein politisches Projekt ersten Ranges und großen, eigenen Wertes. Ein solches Projekt braucht demokratische Unterstützung und eine gewisse räumliche Begrenztheit, in dem sich die Menschen in einem Parlament noch wiederfinden können. Wollen wir die EU wirklich bis an die Grenzen des Irak, des Iran und Syriens ausdehnen? Entspricht das noch dem Gefühl der Menschen von Europa? Die Türkei ist ein großes, stolzes und wichtiges Land, das einen Anspruch darauf hat, mit Respekt behandelt zu werden. Deswegen sollten wir einen umfassenden Grundlagenvertrag abschließen, der eine enge Zusammenarbeit auf vielen Gebieten enthält.

Es gibt deutsche Jugendliche mit türkischen Wurzeln, die sagen: „Mein Präsident ist Erdoğan, nicht Steinmeier.“ Warum ist das so?

Unser Präsident kann verfassungsgemäß nicht so kraftvoll auftreten wie der türkische. Vielleicht finden das einige aber attraktiver als die demokratische Machtteilung bei uns. Politisch erfüllt es mich mit Sorge, dass es nach zwei, drei Generationen immer noch Menschen gibt, die sich so orientieren. Es ist über Jahrzehnte nicht gelungen ist, die Integrationspolitik liberal zu gestalten, weil die Konservativen zu lange von „Gastarbeitern“ sprachen, die irgendwann wieder zurück in ihr „Heimatland“ gehen. Um das mal deutlich zu sagen: Die deutsche Wirtschaft und Gesellschaft würden kollabieren, würden von heute auf morgen alle Migranten aufhören zu arbeiten, Steuern zu zahlen und das Land nach vorne zu bringen. Wir müssen diese Diskussionen nun mit Verspätung führen und Folgen wie die beschriebene aufarbeiten.

Mal runtergebrochen auf den Mikrokosmos Bonn: Hier gibt es ja auch Integrationsprobleme, die sich beispielsweise in der Wohnsituation manifestieren. Solche beengten Wohnverhältnisse waren Treiber in der Pandemie. Wie kann man daraus für die Zukunft lernen, um diese Bevölkerungsgruppen besser zu schützen?

Eine Lektion der Pandemie ist, sehr schnell in die Stadtviertel zu gehen, in denen die Wohnverhältnisse so sind. Die Information und Prävention muss unbedingt mehrsprachig erfolgen. Grundsätzlich hat sich außerdem gezeigt, wie überfordert das Gesundheitsamt in Bonn ist, das über viele Jahre nicht modernisiert wurde. Es hat viel zu lange gedauert, dass die Covid-Erfassung mit Software erfolgte und nicht mehr per Fax.

„Die Auflagen für Wohnungsbau bremsen ihn aus“

Was könnte man für die Verbesserung der Wohnungssituation – nicht nur in Bonn – tun?

Wir sollten uns nicht der Illusion hingeben, man könne alles mit öffentlichen Bauinvestitionen regeln. Wenn aus öffentlicher Hand 1000 Wohnungen gebaut werden, werden privat gleichzeitig 3000 bis 4000 Wohnungen errichtet. Deshalb ist das Entscheidende die Mobilisierung der privaten Investitionen. Das heißt Ausweisung von Bauland, schnellere Erteilung von Genehmigungen und Rücknahme von Auflagen, die im Einzelfall unsinnig sind wie Rollatorenstellplätze im Studentenwohnheim oder die Baukosten erheblich erhöhen wie verpflichtende Photovoltaikanlagen. Es gibt bestimmte Sachen, die man sozial oder ökologisch erklären kann. Aber sie verlangsamen die Entstehung neuen bezahlbaren Wohnraums.

Und wenn gebaut wird, dann doch eher die teureren Immobilien. Wie kann denn noch bezahlbarer Wohnraum geschaffen werden?

Das mag Sie überraschen, aber die FDP in Bonn hat sich für einen hohen Anteil an sozialgebundenen Wohnungen ausgesprochen, je nach Objekt 30 bis 60 Prozent. Aber wenn sie das Kapital mobilisieren wollen, können Sie nicht nur sozialen Wohnbau betreiben. Sie brauchen einen guten Mix aus marktwirtschaftlichen Anreizen und der Beantwortung der sozialen Frage mit bezahlbarem Wohnraum.

„Deutschland ist in der Digitalisierung zurückgefallen“

Warum hat die Corona-Warn-App nicht so gezündet? Warum wurden Millionen ausgegeben, ohne dass es einen richtigen Effekt auf die Begrenzung der Pandemie gab?

Am Anfang war die Funktionalität viel zu stark eingeschränkt. Das lag gar nicht am Datenschutz, bestimmte Funktionen wurden einfach nicht mitgedacht. Die Entwicklung dauerte lange, man hat nur auf die großen Player gesetzt, statt dem Wettbewerb zu ermöglichen, bessere Ansätze zu finden. Und dann war es eine nationale App. Dabei sind wir Deutschen die Reiseweltmeister schlechthin. Ich bin aber sehr froh, dass die EU-App jetzt sehr gut mit der nationalen App integriert ist. Als Lektion für die Zukunft haben wir immerhin gelernt, dass die digitale Kontaktnachverfolgung einer der zentralen Punkte in der Pandemiebekämpfung ist und nicht Faxgeräte oder Zettelchen in Kneipen. Das zeigt einfach, wie sehr Deutschland in den 16 Merkeljahren in der Digitalisierung zurückgefallen ist.

Alexander Lamsbdorff (links oben) im Gespräch mit Johannes Mirus (re.) und Ansgar Skoda (unten)

Ein ähnliches Thema haben wir beim Katastrophenschutz. Einerseits wurde zu wenig gewarnt, andererseits zu viel, aber nicht drängend genug. Besteht ein grundlegendes Problem darin, dass Katastrophenschutz sowohl Länder-, als auch Bundesangelegenheit ist?

Deutschland ist strukturell kaum in der Lage, best practices aus anderen Ländern zu übernehmen. Was woanders funktioniert, ist nur schwer bei uns zu integrieren. Wir sind noch nicht einmal in der Lage, ein von uns mitgeschaffenes europäisches Hochwasser-Warnsystem so zu integrieren, dass es wirkt. Das European Flood Advisory System hat rechtzeitig Warnungen herausgegeben, aber kein Mensch weiß, wo sie gelandet sind. Falls sie überhaupt beim Bevölkerungsschutz angekommen sind, wurden sie dort nicht mit dem nötigen Druck bearbeitet.

Ich habe das Gefühl, dass Deutschland zu bequem geworden ist. Wenn so eine Warnung von offizieller Stelle kommt, dann reicht eine E-Mail an einen Verteiler einfach nicht aus. Da muss ich zum Hörer greifen. Der Chef des Bundesamtes für Katastrophenschutz Schuster hätte vielleicht mal aus dem Urlaub zurückkommen müssen, wenn sich eine solche Lage abzeichnet, und die entsprechenden Landräte informieren. Das ist auch eine Mentalitätsfrage.

„Vom WDR bin ich persönlich enttäuscht“

Auch die öffentlich-rechtlichen Rundfunksender haben in der Katastrophensituation versagt.

Vom Westdeutschen Rundfunk bin ich auch persönlich enttäuscht. Ich bin – bei aller berechtigten Kritik – für einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk. In einer solchen Situation mache ich zuerst den WDR an. Und dann höre ich die besten Hits der Achtziger, während im Ahrtal eine große Flutwelle Menschen umbringt. Das geht einfach nicht!

Wir müssen uns in Deutschland überlegen, ob wir noch schnell genug sind, ehrgeizig genug sind und auch bereit sind, in den Krisenmodus zu schalten, anstatt immer nur Dienst nach Vorschrift zu machen. Als ich das auf Twitter ansprach, antwortete mir ein WDR-Redakteur, die Menschen hätten doch schon genug Überstunden gemacht. Der hat nicht verstanden, worum es geht. In so einer Situation kann man doch nicht Überstunden zählen! Da muss man Hörfunk machen, der Menschenleben retten kann!

Sollten Sie nach der Bundestagswahl in eine verantwortliche Position gelangen, in der Sie in dieser Hinsicht wirklich etwas bewegen könnten, was wäre Ihre erste Amtshandlung?

Die Stärkung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe für Katastrophen, die länderübergreifend sind. Das BBK hat in den letzten 10, 15 Jahren genau das getan, was die Bundesländer von ihm wollten, nämlich gar nichts. Denn Katastrophenschutz ist die Zuständigkeit der Bundesländer und die wollten nicht, dass sich der Bund da reinhängt.

„Der Föderalismus muss dringend diskutiert werden“

Der Föderalismus ist das Problem?

Der Föderalismus muss dringend insgesamt diskutiert werden. Das zeigen auch Corona und die schleichende Bildungskrise, die mit dem Föderalismus zusammenhängen. Niemand will ihn abschaffen, das wäre auch verboten, Artikel 79 (3) des Grundgesetzes gibt den Ländern eine Ewigkeitsgarantie und die deutsche Geschichte zeigt auch, dass Föderalismus etwas Gutes ist. Aber er muss dann bitte so gestaltet werden, dass er nicht Menschenleben kostet.

Kommen wir zur Wirtschaft. Von den Coronahilfen haben vor allem große Unternehmen profitiert, die sogar noch Dividenden ausschütteten. Wie wollen Sie kleine und mittelständische Unternehmen und Selbständige nach der Krise schützen?

Ich sage erst einmal: Einspruch, euer Ehren! Viele kleine und mittlere Unternehmen haben von den Coronahilfen profitiert. Auch Soloselbständige, allerdings mit etlichen Antragswirrwarr und Diskussionen mit dem Bundesfinanzminister, welche Kosten übernommen werden.

Um Ihre eigentliche Frage zu beantworten: Wir möchten mit Steuererleichterungen helfen. Wir sind das Land mit den höchsten Steuern und Abgaben der Welt, zumindest im Rahmen der OECD. Wir wollen außerdem ermöglichen, dass Verluste aus der Coronazeit mit Gewinnen verrechnet werden können, damit Geld im Unternehmen bleiben und nicht ans Finanzamt gezahlt werden muss, nur um später zurückerstattet zu werden. Und wir möchten die Zusammenarbeit zwischen Wirtschaft und Universitäten und Forschungseinrichtungen stärken, um Innovationen voranzutreiben.

Würde Christian Lindner als Finanzminister in der Ampel-Koalition auch nur auf die Stimmen der Großunternehmen hören, die mit Arbeitsplätzen argumentieren? Oder würde er auch die kleinen und mittleren Unternehmen in den Fokus nehmen, die ja ebenfalls nicht wenige Arbeitsplätze anbieten?

Ihre subtile Anspielung der Ampel-Koalition wollen wir gleich mal ins Reich der Geschichte verweisen. Da sehen wir alle zurzeit zu wenige programmatische Überschneidungen, was die Grünen und die SPD angeht; gerade auf den Feldern der Finanz- und Steuerpolitik. Beide haben schon angekündigt, Steuern erhöhen zu wollen. Das hat Christian Lindner schon kategorisch ausgeschlossen und das steht einer Ampel im Weg.

„Mittlere und hohe Einkommen müssen entlastet werden“

Braucht es denn eine höhere Besteuerung der Superreichen? Zu Kohl-Zeiten lag der Spitzensteuersatz bei 46 Prozent, heute bei 42 Prozent ab einem Jahreseinkommen von 58.000 Euro.

Es gibt darüber noch einen „Spitzen-Spitzen-Steuersatz“ von 45 Prozent ab einem Einkommen von 200.000 Euro. Abgesehen davon sind Sie bei einem Jahreseinkommen von 58.000 Euro schon bei einem gut qualifizierten Facharbeiter. Zu Kohl-Zeiten, also in den 1980-ern, mussten Sie ungefähr das 18-fache des Durchschnittseinkommens verdienen, um im Spitzensteuersatz zu sein. Heute ist es das 1,8-fache. Deswegen sagen wir, dass wir den Spitzensteuersatz nicht erhöhen wollen, sondern wir möchten, dass er später einsetzt. Das wäre eine ganz konkrete Entlastung für viele Menschen in der Mitte der Gesellschaft, die gute Einkommen erzielen, aber bestimmt nicht zu den Spitzenverdienern zählen. Und vergessen Sie nicht, dass gut zehn Prozent der Einkommenssteuerzahler etwa fünfzig Prozent des gesamten Aufkommens zahlen. Da ist in unseren Augen eine Entlastung dringend nötig.

Da verstehen wir auch die Unterschiede zu SPD und Grünen, die höhere Einkommen eher noch mehr besteuern wollen.

Dafür sind sie Sozialdemokraten und eine grünlinke Partei. Das ist das Schöne in der Demokratie, da gibt es unterschiedliche Angebote. Wer das gut findet, soll sie auch wählen. Aber wer der Meinung ist, dass wir im Land des Steuerweltmeisters die Steuern nicht noch weiter nach oben treiben sollten, der kann uns dann wählen.

Wie sehen die Angebote für Geringverdienende aus, zum Beispiel Hartz-IV-Empfänger? Wie kann man diese Gruppe entlasten?

Hartz-IV-Empfänger zahlen ja keine Einkommenssteuer, Geringverdiener auch wenig durch den Grundfreibetrag. Hier greift also weniger die Steuerpolitik, sondern mehr die Sozialpolitik. Beim aktuellen Hartz-IV-System möchten wir, dass Geld, das hinzuverdient wird, nicht sofort fast vollständig wieder angerechnet wird. Das ist leistungsfeindlich. Nehmen sie einen 16-Jährigen, der beispielsweise Regale in einem Supermarkt einräumt. Seine Eltern müssen sich seinen Verdienst anrechnen lassen. Wie soll denn eine Gesellschaft der nächsten Generation ein Leistungsethos weitergeben, wenn einem der Staat die Früchte der Leistung wieder wegnimmt?

„Der Begriff ‚Aufrüstung‘ ist linke Polemik“

Viel Steuergeld wird für die Aufrüstung ausgegeben. Braucht es KI-gesteuerte Kampfjets oder Drohnen?

Ich weiß nicht, woher Sie den Begriff „Aufrüstung“ nehmen. Reden Sie doch mal mit Soldatinnen und Soldaten. Sie beschreiben den Zustand ihrer Ausrüstung so, dass sie schon mit Reparaturen ziemlich zufrieden wären. Es ist linke Polemik, wenn man behauptet, es würden große Beträge in die Aufrüstung gehen. Das ist Fake News. Zurzeit gehen ungefähr 1,25 Prozent des Bruttoinlandsproduktes in die Bundeswehr. Nicht nur in Ausrüstung, auch in die Gehälter. Wir haben uns in der Nato verpflichtet, diesen Anteil auf zwei Prozent zu erhöhen. Ein Fünftel davon soll in Forschung und Entwicklung gehen.

Brauchen wir das? Na klar! Wenn wir uns die Welt anschauen, stellen wir fest, dass wir in Europa auf einer Insel der Glückseligkeit leben. Wir müssen unseren „European way of life“, zu dem unter anderem Demokratie zählt, schützen und verteidigen. Das können wir nicht allein den Amerikanern überlassen. Wir als FDP wollen aber auch keinen ausschließlichen Fokus auf das Militärische setzen, wir möchten auch internationale Zusammenarbeit in der Entwicklung, die zivile Krisenprävention und die Diplomatie mitdenken. Letztere zum Beispiel ist auch dramatisch unterfinanziert. Wir sagen, dass wir drei Prozent für die internationale Verantwortung Deutschlands ausgeben sollten, darin enthalten sind die zwei Prozent für die Bundeswehr, aber auch die 0,7% für die Entwicklungszusammenarbeit.

„Wir brauchen dringend Innovationen bei den erneuerbaren Energien“

Der Ausbau der erneuerbaren Energieträger läuft schleppend. Windräder werden kritisiert, weil sie das Panorama verschandeln und den Landtourismus beeinträchtigen. Wären Kleinwindkraftanlagen mit vertikalen Turbinen besser?

Brillante Frage, höre ich zum ersten Mal. Wir sind total offen für Innovationen. Überhaupt braucht der Sektor der erneuerbaren Energien dringend technische Innovationen. Wir haben einen Konflikt, bei dem Menschen aus der Stadt denen auf dem Land erklären, wo sie gefälligst überall ihre Windkraftanlagen aufzustellen haben. Wenn es gelänge, mit technischen Neuerungen eine Lösung herbeizuführen: Ja klar, thumbs up, sofort!

Sollten im Sinne des Umwelt- und Arbeitsschutzes auch globale Lieferketten überdacht werden? Geht der Weg zu mehr Umweltschutz über mehr regionale Landwirtschaft?

Ja und nein. Wir haben in Deutschland eine Selbsternährungsquote von 50 Prozent. Großbritannien beispielsweise hat 30 Prozent. Also ohne Import von Lebensmitteln würden wir hier schnell in Schwierigkeiten kommen. Kurt Tucholsky hat mal gespottet: „Deutsche, kauft deutsche Zitronen!“ Ohne Handel geht es nicht. Ich finde das schön. Wir exportieren ja auch viel, denken Sie nur an den Wein aus unserer Gegend, der überall auf der Welt getrunken wird! Aber natürlich gibt es auch Auswüchse, da kann man gegensteuern, auch von Verbraucherseite.

Muss es denn trotzdem die Flugmango sein? Kann man nicht regulatorisch ein wenig gegensteuern im Sinne des Klimaschutzes und die größten Klimasünder einschränken?

Das ist ein Dilemma, denn das sind genau die Produkte, mit denen Länder des globalen Südens ihre Einkommen sicherstellen. Wenn wir solche Produkte künstlich verteuern, dann können sie sich auch nur noch reiche Menschen leisten. Wir können darüber reden, aber dann muss man auch die Folgen diskutieren. Natürlich gibt es verrückte Auswüchse wie die Nordseekrabben, die in Marokko gepult werden, um dann an der Nordsee als lokale Krabben verkauft zu werden. Sowas muss man angehen.

„Ich halte nichts von der Verteufelung des Autos“

Da sind wir schon zum Thema Mobilität. Mal im lokalen Fokus: Wie können wir öffentliche Transportmittel fördern? Wie können wir Individualverkehr reduzieren? Oder müssen wir das gar nicht, sondern eher noch mehr Straßen bauen?

Ich bin für friedliche Koexistenz verschiedener Verkehrsträger. Ich halte nichts von der Verteufelung des motorisierten Individualverkehrs. Wir leben in einer alternden Gesellschaft. Meine Eltern sind Mitte 80, wenn die einkaufen gehen, brauchen die ein Auto. Ich will nicht, dass sie aus der Stadt gedrängt werden und auf dem Land leben müssen, weil es unmöglich ist, in der Stadt noch mit dem Auto zu fahren. Wir sind als Liberale ganz offen dafür, die Fahrradinfrastruktur zu verbessern, ganz offen dafür, innovative Dinge wie Wassertaxis oder -busse zu haben. Und was ist eigentlich mit der seit Jahren angekündigten Seilbahn auf den Venusberg? Ich habe kein Problem damit, dass die überproportionale Fokussierung auf das Auto reduziert wird, aber denken Sie auch an die großen Teile der Gesellschaft – Alte, Mütter und Väter mit Kindern und so weiter – die auf das Auto angewiesen sind!

Wenn Sie von friedlicher Koexistenz reden, meinen Sie dann sowas wie: „Neuer Radweg gerne, aber nicht, wenn dafür eine Autospur weggenommen werden muss“?

Doch, das kann im Einzelfall richtig sein. Man sollte es weniger ideologisch und unsinnig machen wie die Grünen in der Kaiserstraße. Ich wäre zum Beispiel dafür, bessere Konzepte für den Bereich Bertha-von-Suttner-Platz und Oxfordstraße zu finden, von mir aus auch zu Lasten des motorisierten Individualverkehrs. Mir geht es wie gesagt darum, dass alle Parteien gehört werden und dass man Möglichkeiten zur friedlichen Koexistenz findet.

„Transparenz beim Lobbyismus ist wichtig, ich brauche aber auch einen geschützten Raum“

Wie sehen Sie den Einfluss von Lobbyisten im Bundestag?

Wir haben uns sehr stark für Transparenz eingesetzt. In Deutschland gab es gar kein Lobbyregister. Wir haben, zusammen mit den Grünen, dafür gekämpft, dass es sogar recht ausführliche Eintragungspflichten gibt. Die Große Koalition hat da eher gebremst. Ich bin gespannt, wie sich das Lobbyregister in der kommenden Legislaturperiode bewähren wird.

Lobbyismus gehört aber in einer freiheitlichen Demokratie dazu. Alle machen organisierte Interessenvertretung, von den Kirchen über den Umweltschutz bis zum Handel. Schwierig ist es nur, wenn es missbräuchlich wird. Oder wenn bestimmten Gruppen exklusiver Zugang eingeräumt und anderen verwehrt wird. Oder wenn Abgeordnete 1:1 das tun, was Lobbyisten wollen.

Ich möchte als Abgeordneter, ähnlich wie ein Journalist oder Rechtsanwalt, aber auch einen geschützten Raum haben. Ich muss die Möglichkeit haben, Überlegungen mit Mitarbeitern oder Gesprächspartnern anzustellen, die nicht öffentlich werden.

Letzte Frage: Technische Produkte werden aus wirtschaftlichen Gründen so gestaltet, dass sie nach einer bestimmten Laufzeit nicht mehr funktionsfähig sind. Braucht es hier neue Gesetzesvorgaben?

Sie stellen das als Tatsache hin, die Unternehmen behaupten aber das Gegenteil. Gesetzlich etwas regulieren zu wollen, von dem bestritten wird, dass es vorhanden ist, ist sehr schwierig. Sie scheitern voraussichtlich vor den Gerichten, wenn sie keine hinreichende Bestimmtheit nachweisen können. Ich setze hier auf die Verbraucher. Es gibt jetzt schon Unternehmen wie beispielsweise den Otto-Versand, die gezielt Produkte anbieten, die reparierbar sind.

Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Wahl!

Das Interview führten Ansgar Skoda und Johannes Mirus am 28. Juli 2021 per Videokonferenz.

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