Jes­si­ca Ro­sen­thal kam für ein frei­wil­li­ges po­li­ti­sches Jahr bei CA­RE nach Bonn und blieb hier für ein Lehr­amts­stu­di­um. Sie en­ga­giert sich hier seit 2013 in der SPD. Die 28-Jährige un­ter­rich­tet heu­te an ei­ner Ge­samt­schu­le im Bon­ner Nor­den. Seit März 2020 ist sie Vor­sit­zen­de der SPD in Bonn. Ja­nu­ar 2021 trat sie als Juso-Vorsitzende die Nach­fol­ge von Ke­vin Küh­nert an. Jo­han­nes Mi­rus und Ans­gar Sko­da er­le­ben die Di­rekt­kan­di­da­tin der SPD für die Bun­des­stadt in ei­nem Vi­deo­in­ter­view am 26. Ju­li be­stimmt und kämp­fe­risch. Sie be­ant­wor­tet un­ter an­de­rem Fra­gen zur Wohn­raum­ver­dich­tung in Bonn, Hartz IV und zu Her­aus­for­de­run­gen des Kli­ma­wan­dels und der Corona-Pandemie.

Bundesstadt.com: Jan De­lay singt in sei­nem neu­en Al­bum Earth, Wind & Fei­ern in „Ges­tern“ über die SPD: „Tut mir leid, | lie­be Brü­der und Schwes­tern | Nichts ist so kalt, | wie der hei­ße Scheiß von ges­tern.“ Ist SPD Re­tro? Was wür­den Sie ihm entgegnen?

Jes­si­ca Ro­sen­thal: Auf ganz un­ter­schied­li­chen Ebe­nen wür­de ich sa­gen, dass sich hier der zwei­te, auch prü­fen­de Blick sehr lohnt. Kei­ne Par­tei hat so vie­le jun­ge Kan­di­die­ren­de wie die SPD. Es kan­di­die­ren al­lei­ne 82 Ju­sos, das heißt Men­schen un­ter 35, der SPD für den Bun­des­tag. Ich bin hier in Bonn ei­ne der jüngs­ten Kan­di­die­ren­den der SPD in ganz NRW. Mit 28 Jah­ren bin ich der­zeit Teil ei­ner Grup­pe, die in der Po­li­tik kaum ei­ne Stim­me ha­ben. Wir ha­ben uns auf­ge­macht mit der SPD, den Sound im Bun­des­tag zu ver­än­dern. Wir möch­ten jun­gen Men­schen end­lich ei­ne Stim­me ge­ben, weil wir ih­re Per­spek­ti­ve selbst ein­brin­gen. Es geht jetzt ganz klar für jun­ge Men­schen um al­les. Wir müs­sen die Wei­chen da­für stel­len, dass wir bald ei­ne bes­se­re Zu­kunft vor uns ha­ben. Wir müs­sen den Kli­ma­wan­del be­kämp­fen. Wir se­hen bei der Corona-Pandemie, wo wir De­fi­zi­te ha­ben. Wir se­hen an der Flut­ka­ta­stro­phe, dass wir an vie­len Stel­len, auch als Kom­mu­ne, noch nicht vor­be­rei­tet sind. Al­le die­se Punk­te müs­sen jetzt mit mas­si­ven In­ves­ti­tio­nen an­ge­gan­gen wer­den. Wenn man in das Wahr­pro­gramm der SPD schaut, sieht man ge­nau das. Wir schrei­ben da nicht nur net­te Sa­chen hin­ein; wir ha­ben auch ein Kon­zept. Wir sind nicht nur per­so­nell, son­dern auch in­halt­lich gut vor­be­rei­tet. Des­halb wer­be ich ins­be­son­de­re bei jun­gen Men­schen für die SPD.

Wir möch­ten jun­gen Men­schen end­lich ei­ne Stim­me geben.“

Was ent­geg­nen Sie denn Men­schen, die Ih­nen dann sa­gen: „Jung: schön und gut. Wir brau­chen aber auch Men­schen mit Er­fah­rung.“ Ist es nicht auch ein Nach­teil, wenn man so un­vor­be­rei­tet in den Bun­des­tag kommt?

Man ist ja nicht un­vor­be­rei­tet, wenn man mit 28 in den Bun­des­tag geht. Vie­le Men­schen ha­ben in mei­nem Al­ter ei­ne Aus­bil­dung ge­macht, zie­hen zwei Kin­der groß und über­neh­men schon lan­ge Ver­ant­wor­tung im Be­rufs­le­ben. Wir kön­nen in ei­ner De­mo­kra­tie nur dann er­folg­reich sein, wenn auch al­le Be­rück­sich­ti­gung fin­den. Das Al­ter birgt ei­nen Per­spek­tiv­un­ter­schied. Wir sind mit dem In­ter­net groß ge­wor­den. Wir wis­sen, was es be­deu­tet, wenn ich kein gu­tes W-LAN ha­be. Al­le un­ter 40-Jährigen sind mas­siv un­ter­prä­sen­tiert im Bun­des­tag. Es muss sich et­was än­dern, auch an den The­men­fel­dern. Und es wird sich nur et­was än­dern, wenn wir als jun­ge Men­schen auch ei­ne Stim­me ha­ben. Un­ser Kanz­ler­kan­di­dat Olaf Scholz ist be­reit, die­ses Land zu füh­ren und hat die nö­ti­ge Er­fah­rung. Ich wä­re an sei­ner Sei­te und wür­de die­se jün­ge­re Per­spek­ti­ve gleich­zei­tig mit ein­brin­gen. Jung und Alt ge­mein­sam, ver­schie­de­ne Per­spek­ti­ven, ver­schie­de­ne Ge­schlech­ter. Wir soll­ten bei die­ser Wahl ge­nau hin­schau­en, weil es um viel geht.

Wenn es dar­um geht, wem die Men­schen ver­trau­en, liegt Olaf Scholz klar vorne.“

Mo­men­tan ver­sa­gen die Kan­di­da­ten von CDU und Grü­ne ziem­lich in der Wahr­neh­mung der Öf­fent­lich­keit. Wor­an liegt es, dass Olaf Scholz nicht rich­tig da­von pro­fi­tie­ren kann?

Man kann die­ses Ur­teil mei­ner An­sicht nach so nicht fäl­len. Wenn es dar­um geht, wem die Men­schen ver­trau­en, liegt Olaf Scholz klar vor­ne. In ei­ni­gen Um­fra­gen ge­winnt die SPD an Zu­stim­mung. Es ist weit von dem ent­fernt, was wir uns wün­schen, aber es sind auch noch sechs Wo­chen bis zur Wahl. Ich bin da­ge­gen, Po­li­tik an Um­fra­gen aus­zu­rich­ten. Die Wäh­le­rin­nen und Wäh­ler ent­schei­den am Wahl­tag. Bis da­hin kämp­fe ich um das Ver­trau­en der Bon­ne­rin­nen und Bonner.

Bonn ist ei­ne wach­sen­de Stadt und es gibt ei­ne zu­neh­men­de Wohn­raum­ver­dich­tung. Wie wich­tig sind ih­nen Frei- und Grün­flä­chen und Bäume?

Grund­sätz­lich sind mir Bäu­me wich­tig, denn Grün­flä­chen sind auch mit Blick auf das Stadt­kli­ma ent­schei­dend. Klu­ge Po­li­tik be­deu­tet aber, dass ge­gen­sätz­li­che In­ter­es­sen ab­ge­wo­gen wer­den: Wie schafft man be­zahl­ba­ren Wohn­raum und wie kön­nen wir Grün­flä­chen er­hal­ten? Wir ha­ben in Bonn die höchs­ten Durch­schnitts­mie­ten in NRW. Vie­le kön­nen sich das Le­ben hier nicht leis­ten. Wir soll­ten­ver­su­chen, die Flä­chen­ver­sie­ge­lung so ge­ring wie mög­lich zu hal­ten, aber gleich­zei­tig mehr be­zahl­ba­ren Wohn­raum schaf­fen, et­wa durch Nach­ver­dich­tung von be­reits be­bau­ten Flä­chen. Wich­tig ist mir auch, dass Fassaden- und Dach­be­grü­nung um­fas­send ge­för­dert wer­den. Das ist un­se­re Po­si­ti­on als kom­mu­na­les Bünd­nis in Bonn. Wir müs­sen die Kom­mu­ne in die La­ge ver­set­zen, ak­ti­ve Woh­nungs­po­li­tik ma­chen zu kön­nen. So soll­te Bo­den zu­rück­ge­kauft wer­den kön­nen. Wir ha­ben in Bonn vie­le Flä­chen, die dem Bund ge­hö­ren. Die­se Flä­chen soll­ten Bonn zur Ver­fü­gung ge­stellt wer­den, da­mit wir dort als Kom­mu­ne be­zahl­ba­re Woh­nun­gen et­wa für jun­ge Fa­mi­li­en schaf­fen kön­nen. Da­für möch­te ich mich in Ber­lin einsetzen.

Wir wol­len als SPD 100.000 so­zi­al ge­för­der­te Woh­nun­gen je­des Jahr bauen“

In Ber­lin wur­de der Mie­ten­de­ckel ein­ge­führt. Wie sind die Plä­ne der SPD, das auf Bun­des­ebe­ne in ganz Deutsch­land zu etablieren?

Es ist für uns ein ganz kla­res Ziel, uns ei­ne Atem­pau­se zu ver­schaf­fen. In an­ge­spann­ten Wohn­la­gen ist ein Mie­ten­stopp not­wen­dig, da­mit wir die­se  Atem­pau­se be­kom­men, um zu bau­en. Wir wol­len als SPD 100.000 so­zi­al ge­för­der­te Woh­nun­gen je­des Jahr bau­en. Wir wol­len ein Mie­ten­mo­ra­to­ri­um mög­lich ma­chen, so­dass die Mie­ten in an­ge­spann­ten La­gen nicht über die In­fla­ti­ons­ra­te hin­aus steigt. Wir brau­chen dar­über hin­aus auch ei­nen kom­mu­na­len Bo­den­fonds, der Kom­mu­nen die Mög­lich­keit bie­tet, Bo­den zu­rück­zu­kau­fen und für be­zahl­ba­re Woh­nun­gen zu nutzen.

In Bonn wa­ren so­zia­le Brenn­punk­te und Stadt­be­zir­ke wie Tan­nen­busch Corona-Infektionsherde. Soll­ten oft be­eng­ter le­ben­de Men­schen mit an­de­ren kul­tu­rel­len Hin­ter­grün­den nicht nur in Kri­sen­zei­ten mehr in den Blick ge­nom­men und un­ter­stützt werden?

Ja, auf je­den Fall. Ich ha­be wäh­rend der Corona-Zeit auch im­Schul­zen­trum in Tan­nen­busch un­ter­rich­tet. Ca­ri­tas, Dia­ko­nie und der Pa­ri­tä­ti­sche ha­ben mir ge­gen­über sehr ein­drucks­voll be­schrie­ben, was ich auch sel­ber im­mer wie­der er­le­be: Wir sind ei­ne Stadt mit zwei Ge­sich­tern. Auf der ei­nen Sei­te ha­ben wir ein sehr ho­hes Durch­schnitts­ein­kom­men, sind ein gu­ter und pro­spe­rie­ren­der Wirt­schafts­stand­ort. Dann sind da aber auch ho­he Mie­ten, ho­he Le­bens­kos­ten, bei­spiels­wei­se auch für den Nah­ver­kehr. Schu­len müs­sen ge­ra­de auch in Brennpunkt-Stadtteilen ge­mäß dem So­zi­al­in­dex be­son­ders aus­ge­stat­tet wer­den. Wir müs­sen hier be­son­ders un­ter­stüt­zen. Wir ha­ben oft nicht die fi­nan­zi­el­len Ka­pa­zi­tä­ten für zu­sätz­li­che So­zi­al­ar­beit und für zu­sätz­li­che An­ge­bo­te. Der Bund muss die Kom­mu­nen, auch Bonn, ent­las­ten, um das zu än­dern und je­dem Kind die glei­chen Chan­cen zu geben.

Wir brau­chen Imp­fun­gen in Shisha-Bars, in Knei­pen vor Ort.“

Wie kön­nen wir ver­hin­dern, dass im Herbst bei der an­ste­hen­den vier­ten Wel­le, wenn die Schu­len wie­der los­ge­hen, die be­eng­ten Ver­hält­nis­se wie­der zum Pan­de­mietrei­ber werden?

Wir ha­ben über un­ser Stadt­rats­mit­glied Max Bi­niek, der sich hier be­son­ders ein­ge­setzt hat, da­für ge­sorgt, dass in Tan­nen­busch Schwer­punkt­imp­fun­gen durch­ge­führt wer­den. Die Stadt Bonn hat da un­se­re In­itia­ti­ve auf­ge­grif­fen. Das war ein Er­folgs­mo­dell, das fort­ge­setzt wer­den muss. Wir brau­chen Imp­fun­gen in Shisha-Bars, in Knei­pen vor Ort. Das be­deu­tet ei­nen ge­mein­sa­men Kraft­akt. Wir müs­sen als Stadt­ge­sell­schaft zu­sam­men­hal­ten und in die­se Stadt­tei­le schau­en. Das ist der Kern von So­li­da­ri­tät. Wir müs­sen auch an­de­re Wohn­ver­hält­nis­se schaf­fen. Selbst in Stadt­tei­len wie Tan­nen­busch ha­ben wir be­reits Verdrängungseffekte.

Braucht es ei­ne Be­gren­zung der Kin­der mit ge­rin­gen Deutsch­kennt­nis­sen an Schu­len? Wä­re es wich­tig, Kin­der mit Mi­gra­ti­ons­hin­ter­grund mehr auf ver­schie­de­ne Schu­len zu verteilen? 

Wir brau­chen die bes­ten Schu­len und ei­ne so­zia­le Durch­mi­schung. Wir müs­sen als Ge­sell­schaft Schu­len an­ders be­trach­ten. Wir brau­chen mul­ti­pro­fes­sio­nel­le Teams und in­di­vi­du­el­le För­de­rung für je­des Kind, um Ent­las­tung zu schaf­fen, et­wa durch mehr Sozialarbeiter:innen. Klas­sen soll­ten ver­klei­nert wer­den, ganz klar auch da, wo ei­ne Spra­che neu ge­lernt wer­den muss. Co­ro­na hat ge­zeigt, dass Bil­dung in al­len Pa­pie­ren als prio­ri­tär an­ge­se­hen wird, aber nichts pas­siert. Ich wer­de das nicht hin­neh­men und da­für strei­ten, dass der Bund im Bun­des­haus­halt klar zeigt, dass Bil­dung Prio­ri­tät ist und dass der Bund in­ves­tiert. Das Schul­zen­trum in Tan­nen­busch soll seit zehn Jah­ren neu ge­baut wer­den. Es ist nicht die Stadt, die das Schul­zen­trum nicht neu bau­en möch­te, son­dern es ist ei­ne Fra­ge von Gel­dern – auch des Bun­des – die man prio­ri­sie­ren muss.

Co­ro­na hat ge­zeigt, dass Bil­dung in al­len Pa­pie­ren als prio­ri­tär an­ge­se­hen wird, aber nichts passiert.“

Ein an­de­res The­ma, aber auch die Be­zie­hun­gen zwi­schen Bund und Bonn be­tref­fend: Wie kön­nen wir ver­hin­dern, dass Bonn an Be­deu­tung als Bun­des­stadt ver­liert, dass Mi­nis­te­ri­en schlei­chend nach Ber­lin zie­hen? So ver­liert Bonn ja auch an Be­deu­tung als in­ter­na­tio­na­le Stadt mit Be­zie­hun­gen zur Regierung.

An ver­ant­wort­li­cher Stel­le saß in der letz­ten Le­gis­la­tur Horst See­ho­fer, der ein brei­tes re­gio­na­les Bünd­nis der Bun­des­stadt, das ei­ne Clus­ter­ent­wick­lung vor­an­trieb, aus­brems­te. Ich sprach als Juso-Vorsitzende mit dem SPD-Vorsitzenden. Wir ste­hen zum Stand­ort Bonn und zur Cluster-Weiterentwicklung. In den po­li­ti­schen Köp­fen muss ver­an­kert wer­den, dass wir nicht in Nost­al­gie zu­rück, son­dern nach vor­ne schau­en. Wir wol­len in­ter­na­tio­na­le UN-Stadt und Kli­ma­haupt­stadt sein. Hier­für wer­de ich in Ber­lin Lob­by­ar­beit ma­chen. Es wird dar­auf an­kom­men, in Bonn wei­te­re in­ter­na­tio­na­le Or­ga­ni­sa­tio­nen an­zu­sie­deln. Hier wer­den dann die Kon­gres­se ab­ge­hal­ten, die das Nach­hal­tig­keits­clus­ter fül­len. Ich möch­te da­für strei­ten, dass wir Mo­dell­pro­jekt oder -stadt wer­den für ti­cket­frei­en Nah­ver­kehr. Wir müs­sen end­lich das Be­kennt­nis da­für be­kom­men, dass es den Zu­satz­ver­trag gibt, der klar die Clus­ter­bil­dung fest­schreibt. Bonn muss zur Kli­ma­haupt­stadt wei­ter­ent­wi­ckelt werden.

Mit gro­ßen In­sti­tu­tio­nen wie UNESCO, DAAD, GIZ, Deut­sche Wel­le und Welt­hun­ger­hil­fe steht Bonn in der Tat für In­ter­na­tio­na­li­tät. Neh­men Sie die­se in­ter­na­tio­na­le Viel­falt in Bonn wahr? Se­hen Sie sich als Bot­schaf­te­rin für mehr in­ter­na­tio­na­len Zusammenhalt?

Ja, auf je­den Fall. Zum ei­nen muss man klar sa­gen, dass die SPD in­ter­na­tio­na­len Zu­sam­men­halt in ih­rer DNA ver­or­tet hat, in­dem wir bei­spiels­wei­se vor 25 Jah­ren die Ver­ein­ten Na­tio­nen nach Bonn ge­holt ha­ben. Deut­lich wird das auch dar­in, dass die SPD in der Bun­des­re­gie­rung da­für ge­sorgt hat, dass Deutsch­land zweit­größ­ter Geld­ge­ber für die Covax-Initiative ist. Ich selbst kam über die in­ter­na­tio­na­len In­sti­tu­tio­nen über­haupt erst nach Bonn. Ich ha­be hier ein frei­wil­li­ges po­li­ti­sches Jahr bei ei­ner Hilfs­or­ga­ni­sa­ti­on ge­macht. Ich bin dar­über erst in die Po­li­tik ge­kom­men, weil ich ein Jahr ge­se­hen ha­be, was es be­deu­tet, die­se Un­ge­rech­tig­keit und die­se Ar­mut in der Welt zu ha­ben. Was heißt es für Kin­der, nichts zu es­sen ha­ben? Für mich war im­mer klar, Po­li­tik muss die gro­ßen Rä­der dre­hen. Po­li­tik kann für mehr Ge­rech­tig­keit sor­gen. Des­halb ha­be ich mich als Bun­des­tags­kan­di­da­tin auf­stel­len lassen.

Die SPD hat in­ter­na­tio­na­len Zu­sam­men­halt in ih­rer DNA verortet“

Hat die kürz­li­che Flut­ka­ta­stro­phe Ih­ren Blick auf die Kli­ma­kri­se geändert?

Ich muss sa­gen, dass sie das nicht ge­tan hat, weil mir schon seit län­ge­rem klar ist, dass man die Aus­wir­kun­gen der Kli­ma­ver­än­de­rung nicht nur in an­de­ren Län­dern se­hen kann und die Zeit zu han­deln ge­nau jetzt ist. Auf­grund die­ser Be­dro­hung für die Mensch­heit gibt es kei­ne Zeit mehr zu ver­lie­ren. Als jün­ge­rer Mensch, der über die­ses The­ma po­li­ti­siert ist, muss­te ich mit be­ob­ach­ten, dass wir vie­le Wei­chen­stel­lun­gen in der In­dus­trie­po­li­tik ver­passt ha­ben. Die­se Flut­ka­ta­stro­phe und die­ses un­mit­tel­ba­re Leid in un­se­rer Um­ge­bung zu se­hen und es nicht lin­dern zu kön­nen, hat mich ex­trem ge­trof­fen. Es hat die Dring­lich­keit noch ein­mal un­ter­stri­chen, die ich für un­se­re po­li­ti­sche Agen­da sehe.

Jes­si­ca Ro­sen­thal (un­ten) im In­ter­view mit Jo­han­nes Mi­rus (rechts oben) und Ans­gar Sko­da (links oben)

Sie be­to­nen die Dring­lich­keit. Neh­men wir an, Sie sind in ei­ner Po­si­ti­on, wo Sie das ma­chen könn­ten. Was wä­ren denn die nächs­ten Schrit­te, die wir in den nächs­ten vier Jah­ren ge­hen kön­nen, da­mit sich so ei­ne Ka­ta­stro­phe nicht wiederholt?

Die Prio­ri­tät, die Olaf Scholz als Fi­nanz­mi­nis­ter sehr deut­lich macht, liegt dar­auf, dass wir so­fort Hil­fe leis­ten und dass es ei­ne Wie­der­auf­bau­ar­beit gibt. Der Be­völ­ke­rungs­schutz liegt auch auf Bun­des­ebe­ne. Es reicht nicht, wenn et­wa der Kanz­ler­kan­di­dat der CDU sagt, das ist kei­ne Bun­des­auf­ga­be. Der Bund hat ei­ne Ver­ant­wor­tung, auch was Gel­der an­geht. Wir ha­ben die Stu­di­en vor­lie­gen, müs­sen da­nach han­deln und auch klei­ne­re Kom­mu­nen vor­be­rei­ten. Wir brau­chen ei­ne bes­se­re und pro­fes­sio­na­li­sier­te­re Ver­net­zung von zi­vi­ler Hil­fe und Ein­satz­kräf­ten. Wir wer­den als SPD den Ka­ta­stro­phen­schutz wei­ter stärken.

Wir müs­sen die Auf­merk­sam­keit auch auf das Ziel der Kli­ma­neu­tra­li­tät an sich len­ken. Die La­de­infra­struk­tur für E-Mobilität aus­zu­bau­en, reicht nicht. Wir müs­sen die Ver­kehrs­wen­de mög­lich ma­chen und als Kreis mit dem größ­ten Pen­del­ver­kehr in NRW muss der Nah­ver­kehr aus­ge­baut wer­den. Wir brau­chen die Mo­bi­li­täts­ga­ran­tie. Je­der An­woh­ner braucht wohn­ort­nah ei­ne An­bin­dung an Bus oder Bahn. Um die kaum be­zahl­ba­ren Ti­cket­prei­se im Nah­ver­kehr zu sen­ken, brau­chen wir ein an­de­res Fi­nan­zie­rungs­sys­tem. Ne­ben Mo­dell­pro­jek­ten wie dem 365€-Ticket müs­sen wir auch den bei­trags­fi­nan­zier­ten und vor al­lem ti­cket­lo­sen Nah­ver­kehr tes­ten. Die­se Pro­jek­te ma­chen die Ver­kehrs­wen­de kon­kret und sind in der Kli­ma­haupt­stadt Bonn rich­tig an­ge­sie­delt. Wir ha­ben ers­te, sehr gu­te Schrit­te für ei­ne An­pas­sungs­stra­te­gie an den Kli­ma­wan­del ent­wi­ckelt. Wir müs­sen die­se An­pas­sungs­stra­te­gie mit ent­spre­chen­den In­ves­ti­ti­ons­mit­teln hinterlegen.

Es wird ein Mam­mut­akt, die Wirt­schaft kli­ma­neu­tral um­zu­bau­en. Nur wenn Bür­ge­rin­nen und Bür­ger in Kom­mu­nen Geld da­mit ver­die­nen, dass sie an­de­re Kom­mu­nen und das Strom­netz mit Er­neu­er­ba­rer En­er­gie be­lie­fern, kom­men wir weg von die­sem „not in my backyard“-Prinzip. Es müs­sen För­der­kon­zep­te für Bürger:innenenergie vor­ge­legt und En­er­gie­ge­nos­sen­schaf­ten ge­stärkt werden.

Es müs­sen För­der­kon­zep­te für Bürger:innen-energie vor­ge­legt und Energie-genossenschaften ge­stärkt werden.“

Wä­re die Un­ter­stüt­zung ei­nes lo­ka­len So­lar­her­stel­lers ei­ne Al­ter­na­ti­ve, um zu sa­gen, wir schaf­fen auch hier das Ma­te­ri­al vor Ort?

Kei­ne Par­tei hat so viel für die Fra­ge von Wert­schöp­fungs­ket­ten ge­tan wie die SPD in den letz­ten vier Jah­ren mit der Ver­ab­schie­dung des Lie­fer­ket­ten­ge­set­zes ge­gen den Wi­der­stand der Uni­on. Es ist auch klar, dass man die re­gio­na­le In­dus­trie un­ter­stützt. Die­se Fra­ge stellt sich im­mer wie­der, wenn wir über hö­he­ren Ar­beits­schutz oder ho­he öko­lo­gi­sche Stan­dards hier­zu­lan­de im Ver­gleich zu an­de­ren Län­dern sprechen.

Ne­ben Ka­ta­stro­phen­hil­fe ist auch Ka­ta­stro­phen­schutz ein The­ma. Die Warn­sys­te­me ha­ben ja auch ver­sagt. War­um konn­te das Bun­des­amt für Ka­ta­stro­phen­schutz nicht war­nen; weil das ei­ne kom­mu­na­le Auf­ga­be ist?

Wir kön­nen uns die Ebenen- und Ver­ant­wor­tungs­ver­schie­bun­gen nicht leis­ten, weil es um Men­schen­le­ben geht. Warn­ket­ten müs­sen wir kri­tisch auf Feh­ler über­prü­fen. Wir brau­chen hier mehr Kom­pe­ten­zen auf Bun­des­ebe­ne, um bei Ka­ta­stro­phen ein­heit­lich re­agie­ren zu kön­nen und um die Kom­mu­nen vor Ort zu unterstützen.

Wir brau­chen im Ka­ta­stro­phen­schutz mehr Kom­pe­ten­zen auf Bundesebene“

Mal ei­ne per­sön­li­che Fra­ge. Neh­men wir an, der de­si­gnier­te Bun­des­kanz­ler Olaf Scholz sagt, er möch­te sie un­be­dingt in sei­nem Ka­bi­nett ha­ben. Sie könn­ten sich ei­nen Mi­nis­ter­pos­ten frei aus­su­chen. Was wä­re ihr Wunschministerium?

Ich glau­be, ich wür­de Fi­nanz­mi­nis­te­rin wer­den wol­len, weil es dann in mei­ner Ent­schei­dungs­macht steht, die Kom­mu­nen zu ent­las­ten, und fest­zu­le­gen, wie viel Geld wir in den Kli­ma­schutz und in die Bil­dung ste­cken. Die­se Punk­te stel­len die Zu­kunfts­wei­chen für mich, mei­ne Ge­ne­ra­ti­on und mei­ne Kin­der. Ich ent­schei­de dann, wo­für Geld da ist.

Dann gleich ei­ne Fra­ge an die mög­li­che Fi­nanz­mi­nis­te­rin. Soll­te die Ver­mö­gens­steu­er wie­der ein­ge­führt wer­den? Wenn ja, ab wel­chem Jahreseinkommen?

Ja, die Ver­mö­gens­steu­er soll­te auf je­dem Fall wie­der ein­ge­führt wer­den. Der Zu­sam­men­halt der Ge­sell­schaft hängt da­von ab, dass je­der sei­nen Bei­trag leis­tet. Es ist wich­tig, dass die­je­ni­gen, die mehr leis­ten kön­nen, dies auch tun. Seit den 2000er Jah­ren ist der An­teil der­je­ni­gen, die von ih­rem Ver­mö­gen le­ben kön­nen, um 70 Pro­zent ge­stie­gen. Dar­an kön­nen wir se­hen, dass die Ver­mö­gens­un­gleich­heit in un­se­rem Land dras­tisch zu­ge­nom­men hat. Die Ver­mö­gens­steu­er wä­re ein klei­ner Bei­trag, um hier wie­der Ge­rech­tig­keit her­zu­stel­len. Wir re­den hier nicht über die Woh­nung, die man viel­leicht von der Groß­mutter ge­erbt hat, son­dern von Ver­mö­gen ab 2 Mil­lio­nen. Wir brau­chen ei­ne Steu­er­las­tum­ver­tei­lung. Wir müs­sen gleich­zei­tig die un­te­ren und mitt­le­ren Ein­kom­men ent­las­ten. Der Spit­zen­steu­er­satz muss an­ge­ho­ben wer­den, so­dass Men­schen, die als Sin­gle mehr als 250.000 Eu­ro im Jahr ver­die­nen, auch mehr zum Ge­mein­wohl bei­tra­gen, und Men­schen mit ge­rin­gen und mitt­le­ren Ein­kom­men ent­las­tet wer­den können.

Wir brau­chen ei­ne Steuerlast-umverteilung.“

Von den Corona-Hilfen pro­fi­tier­ten ins­be­son­de­re Groß­un­ter­neh­men, die so­gar Di­vi­den­den aus­schüt­ten konn­ten. Wie möch­ten Sie KMUs und Selbst­stän­di­ge nach der Wirt­schafts­kri­se unterstützen?

Auch hier müs­sen wir aus der Corona-Krise ler­nen und sol­che Me­cha­nis­men künf­tig un­ter­bin­den. Ich kann je­den Klein­ge­wer­be­trei­ben­den oder Solo-Selbstständigen ver­ste­hen, der auf­grund die­ses struk­tu­rel­len De­fi­zits vom Glau­ben ab­fällt. In den Be­rei­chen, die be­son­ders ge­lit­ten ha­ben, muss die Wirt­schaft wie­der an­ge­kur­belt wer­den, et­wa durch Frei­zeit­gut­schei­ne. Im Ein­zel­han­del oder in der Gas­tro­no­mie soll­ten wir struk­tu­rell auch über ei­ne Miet­preis­brem­se nach­den­ken. Ich fin­de es nicht rich­tig, wie die Hil­fen be­rech­net wur­den. Der Ver­weis auf Hartz IV für Selbst­stän­di­ge, bei­spiels­wei­se in der Kul­tur­bran­che, war und ist nicht rich­tig. Ich ha­be mit Men­schen ge­spro­chen, die ih­re Exis­ten­zen auf­ge­ben muss­ten, die sie sich über Jahr­zehn­te auf­ge­baut hatten.

Ger­hard Schrö­der war auch mal Bundes-Juso-Vorsitzender und be­zeich­ne­te sich als Mar­xist. Wie konn­te der SPD so et­was wie Hartz IV passieren?

Wir müs­sen Hartz VI end­lich abschaffen“

Die SPD hat ein Sys­tem wei­ter­ent­wi­ckelt, das wei­ter­zu­ent­wi­ckeln war. Die­sen Kraft­akt kön­nen nur we­ni­ge Par­tei­en auf­brin­gen. Es sind Feh­ler pas­siert, die so nicht hät­ten pas­sie­ren dür­fen. Aus mei­ner Sicht sind die­se Feh­ler in ex­tre­mer Wei­se un­ge­recht und zu kor­ri­gie­ren. Die SPD hat viel ge­tan, um das zu tun, bei­spiels­wei­se den An­teil an der Kran­ken­ver­si­che­rung wie­der pa­ri­tä­tisch ge­stal­tet oder ei­nen Min­dest­lohn ein­ge­führt. Ein Punkt, wo das noch nicht ge­lun­gen ist, ist die Fra­ge von Hartz IV. Wir müs­sen auch hier jetzt den Schritt end­lich ge­hen und Hartz IV ab­schaf­fen, in­dem wir es durch ein Bürger:innengeld er­set­zen, dass Schon­ver­mö­gen län­ger er­hält und nicht di­rekt sagt, du musst um­zie­hen und aus dei­ner Woh­nung raus, weil du ar­beits­los bist. Die Ab­si­che­rung, die wir im So­li­dar­sys­tem ha­ben, ist für Le­bens­la­gen, in die wir al­le mal ge­ra­ten kön­nen. Wir al­le kön­nen ein­mal krank wer­den oder in Si­tua­tio­nen kom­men, in de­nen wir nicht ein­fach wei­ter­ar­bei­ten kön­nen. Des­we­gen zah­len wir al­le ein. Das Hartz-IV-System ist nicht ge­recht. Es ist wich­tig, dass wir das Bürger:innengeld jetzt einführen.

Was hal­ten Sie von der Ren­te ab 68?

Ich hal­te das für ei­nen ex­trem fa­ta­len Vor­stoß, ins­be­son­de­re für die jun­ge Ge­ne­ra­ti­on, die ja ge­ra­de die Fra­ge der Al­ters­ab­si­che­rung sehr um­treibt. Es ver­un­si­chert, wenn man sich auf die mög­li­che Ren­te nicht ver­las­sen kann. Die­se De­bat­te ist ein fal­sches Si­gnal und zu­tiefst un­ge­recht, weil vie­le Be­rufs­grup­pen gar nicht so lan­ge ar­bei­ten kön­nen. Wer län­ger ar­bei­ten will, kann auch heu­te schon län­ger ar­bei­ten und pro­fi­tiert so­gar da­von. Aber wir dür­fen das Ren­ten­ein­tritts­al­ter auf kei­nen Fall er­hö­hen. Wir müs­sen da­für sor­gen, dass al­le in das Ren­ten­sys­tem ein­zah­len – auch Be­am­te und Politiker:innen und müs­sen das vor­han­de­ne Sys­tem stabilisieren.

Wenn Sie das Ab­ge­ord­ne­ten­bü­ro in Ber­lin be­zo­gen ha­ben, was ist das Ers­te, das sie ma­chen, wenn sie an­ge­kom­men sind?

Ich kann sa­gen, was ich als ers­tes ma­che mit Blick auf Bonn. Ich wer­de nach ei­nem Bü­ro in Tan­nen­busch oder im Bon­ner Nor­den schau­en, wo ich auf je­den Fall ein Wahl­kreis­bü­ro auf­ma­chen möch­te. Gu­te Po­li­tik kann man nur ma­chen, wenn man zu­hört und da­für möch­te ich ei­nen Ort schaf­fen. Ich möch­te wie­der neu für Po­li­tik be­geis­tern und da­her in der Stadt prä­sent sein – durch ein Wahl­kreis­bü­ro, aber auch in vie­len ein­zel­nen Ge­sprä­chen, die ich auch jetzt schon mit vie­len Men­schen führe. 

Wir dan­ken Ih­nen für das Ge­spräch und Ih­nen wei­ter­hin al­les Gute!

Das In­ter­view mit Jes­si­ca Ro­sen­thal führ­ten Jo­han­nes Mi­rus und Ans­gar Sko­da am 26.07.2021 on­line per Video.

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