Der 34jährige Ilja Bergen ist seit 2018 Sprecher des Kreisverbands der Linken in Bonn. Der Chemikant und BWL-Student ist darüber hinaus seit 2020 Verordneter in der Bezirksvertretung Hardtberg. Er kandidiert für den kommenden Bundestag, für den er als Direktkandidat einziehen möchte. Johannes Mirus und Ansgar Skoda trafen ihn online und sprachen mit ihm unter anderem über die soziale Spaltung der Gesellschaft, die Klimakrise, die Corona-Pandemie, Hartz IV, die Wohnungsnot in Bonn und über Sahra Wagenknecht.
Bundesstadt.com: Was halten Sie von dem aktuellen Parteiausschlussverfahren gegen Ihre Spitzenkandidatin in NRW?
Ilja Bergen: Davon halte ich überhaupt nichts. Auch wenn es Diskussionsbedarf in einer Partei gibt, ist das Ausschlussverfahren kein probates Mittel, diese Diskussion zu führen. Sahra Wagenknecht steht mit ihren streitbaren Positionen nicht außerhalb des Programms. Man darf nicht unterschätzen, dass Sahra Wagenknecht wahnsinnig viele Menschen erreicht, die wir ansonsten womöglich nicht erreichen würden. Deswegen finde ich die ganze Debatte über ein Ausschlussverfahren absurd. Die richtige Debatte muss sein: Wie erreichen wir Menschen, die konkret von linker Politik profitieren würden, die sich aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht bei uns politisch zuhause fühlen?
„‚Die Selbstgerechten‘ ist eine klare Abrechnung mit dem Programm der neoliberalen AfD“
Sehen Sie Sahra Wagenknecht als förderlich oder hinderlich für den linken Wahlkampf?
Absolut förderlich. Sie wird auch nach Bonn kommen, am 23. September um 16:30 Uhr. Die Selbstgerechten ist ein Aufruf, eine starke Linke zu wählen. Es ist eine klare Abrechnung mit dem Programm der komplett neoliberalen AfD. Die AfD bringt niemanden, für den wir als soziale Partei einstehen, irgendwelche Vorteile. Die AfD schreibt in ihrem Parteiprogramm beispielsweise nichts zum Renteneintrittsalter. Gleichzeitig sagt sie, es sollen nur die Menschen etwas bekommen, die etwas eingezahlt haben. De facto will die AfD das Renteneintrittsalter abschaffen. Schuften bis zum Umfallen kann doch nicht das Konzept sein. Wir brauchen eine Mindestrente von 1.200 Euro, mehr Rentenpunkte, etwa drei Entgeldpunkte für Erziehungszeiten. Wir brauchen ein Rentensystem, in das alle einzahlen – Beamte, Selbstständige, Politiker. Das Rentenniveau müssen wir wieder auf 53 Prozent anheben.
Was halten Sie von der Rente ab 68?
Gar nichts, das ist eine versteckte Rentenkürzung. Wir wollen, dass es wieder möglich wird mit 65 Jahren in Rente zu gehen.
Es klingt ja immer gut, dass Renteneintrittsalter niedrig zu halten und eine Basisrente zu etablieren, in die alle einzahlen. Es gibt Modellrechnungen, die sagen, dass es gar nicht viel bringt, wenn auch Beamt*innen und Selbständige einzahlen. Die müssen ja dann auch ihre Rente bekommen. Die Stellschrauben sind eher Renteneintrittsalter, Rentenbeitrag und Länge der Einzahlung. Woher soll das Geld für die Rentenkasse kommen?
Es muss möglich sein, die Riester-Verträge und Versorgungsverträge, die es gibt, in die Rentenversicherung zu überführen. Es ist klar, dass wenn Politiker*innen einzahlen, das nicht den Braten fett macht. Bei Beamten und Selbstständigen sieht es schon anders aus. Wir müssen die Basis ausweiten und auch andere Finanzquellen berücksichtigen, wie etwa Gewinnerträge, die über den Kapitalmarkt erzielt werden.
Als Gründer haben ja manche sogar Schwierigkeiten, sich die Krankenversicherung leisten zu können. Wenn man jetzt noch in die Rentenkasse einzahlen muss, wie möchten sie junge Menschen dazu bringen zu gründen?
Es ist eines der größten Probleme aus der Vergangenheit der Linken, dass der Sozialstaat die Selbstständigen niemals so richtig erreicht hat. Wir wollen hier den Freibetrag für Kleinunternehmer auf 30.000 Euro anheben. Grundsätzlich gilt mit unserem Steuerkonzept, wer weniger als 6.500 Euro Brutto im Monat verdient, bezahlt weniger Steuern. Beträge für Kranken- und Pflegeversicherung müssen sich außerdem viel stärker am realen Einkommen ausrichten. Mindestbeiträge von über 150 Euro bei den Gesetzlichen sind schon richtig heftig und nicht für alle leistbar. Viele Selbständige fallen im Alter aus der Krankenversicherung, weil die Private zu teuer wird und die Gesetzliche sie nicht aufnimmt, obwohl sie müsste. Wir wollen, dass alle mit allen Einkommen in ein System einzahlen. So sinken die Beiträge und niemand verliert den Versicherungsschutz.
„Sahra Wagenknecht erreicht wahnsinnig viele Menschen“
Nochmal zu Sahra Wagenknecht: Warum wird sie innerparteilich derart angefeindet? Wegen Ihren Thesen zu den Linksliberalen in ihrem neuen Buch Die Selbstgerechten?
Sahra Wagenknecht beschreibt in ihrem Buch Menschen, die sich hauptsächlich für sich selbst interessieren und das in ein linksliberales Gehabe verkleiden. Solche Menschen gibt es. Aber sie bilden weder die Mehrzahl der Menschen, die diese Partei vertreten, noch die Mehrzahl der Menschen, die sich gesellschaftspolitisch links engagieren, etwa in Bewegungen wie der Seebrücke, die sich für sichere Fluchtwege einsetzt, oder Fridays for Future. Ganz im Gegenteil. Worum es mir geht, ist Kämpfe zu verbinden. Ein Industriearbeiter kann genauso entsetzt darüber sein, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken wie ein urbaner Akademiker prekär angestellt sein kann; denken Sie an den sprichwörtlichen Geisterwissenschaftler, der Taxi fährt. Es werden Gegensätze aufgemacht, wo keine hingehören. Die wichtigen Kämpfe gehen um höhere Löhne – wir wollen hier 13 Euro Mindestlohn – oder um Verkürzung der Arbeitszeit – wir wollen eine neue Regelarbeitszeit von 30 Stunden.
Ist das ein typisch linkes Problem? Das kennt man ja noch aus SPD-Zeiten, dass man sich eher mit sich selbst beschäftigt, als mit dem politischen Programm?
Ja, tatsächlich ist das ein Phänomen, das die Linke seit Generationen begleitet. Schon Anfang des 20. Jahrhunderts gab es die Spaltung in MSPD und USPD. Das ist alles nicht neu. Es war damals schon unnötig, es ist heute noch unnötiger. Vor allem, wenn man sieht, wie viel Handlungsbedarf eigentlich besteht. Es kann nicht sein, dass immer weniger völlig sinnlos immer reicher werden. Die Diskussion muss sein, wie schaffen wir es, dass dieser absurde Reichtum, der sich in den Händen weniger konzentriert, so verteilt wird, dass die gesamte Gesellschaft von ökonomischen Wachstum profitiert. Viele Menschen sind ökonomisch abgehängt worden.
„Das Damoklesschwert der Sanktion hängt über jedem, der Hartz IV bezieht. Das drückt die Löhne“
Was ist das Rezept der Linken, um diesen Missstand zu beheben?
Die Einführung der Agenda 2010 – „Hartz IV“ – hat dazu geführt, dass es einen wahnsinnig großen Niedriglohnsektor gibt. Das muss rückgängig gemacht werden. Wir brauchen eine sanktionsfreie Mindestsicherung von 1.200 Euro, damit kein Mensch in Deutschland, der bedürftig ist, unter ein bestimmtes Minimum fällt. Es muss sanktionsfrei sein. Das Damoklesschwert der Sanktion hängt derzeit über jeder Bezieherin und jedem Bezieher. Es sorgt mit dafür, dass jeder scheiß Job angenommen werden muss. Jeder Mensch kann zu jeder Arbeit gezwungen werden, unabhängig davon ob sie ihm passt oder nicht. Dieses Problem drückt die Löhne.
Warum schickt die Linke einen Bonner Kandidaten ins Rennen? Sie haben sich nicht um einen Landeslistenplatz bei den Linken in NRW für die kommende Bundestagswahl beworben.
Tatsächlich gehe ich in jedes Gespräch mit der Aussage, das ich höchstwahrscheinlich nicht nach Berlin gehen werde und um die Zweitstimme kämpfe. Mir geht es darum, dass die Linke im Bund und unsere Fraktion möglichst stark werden. Denn umso stärker eine Linke ist, desto sozialer wird auch die SPD und desto grüner werden die Grünen sein. Das ist das Konzept.
Ist dann eine Koalition mit SPD und Grünen ein Ziel?
Das Ziel sind ein Politikwechsel an sich und eine Regierung, die eine Politik einleitet, die sich gegen die Herrschenden und die Macht der Banken und Konzerne durchzusetzen weiß. Ziel ist, dass diese Politik weiß, dass man öffentlich investieren muss. Ziel ist eine Politik, die die ökonomische und soziale Spaltung der Gesellschaft überwindet. Mir sind Farbenspiele in der Hinsicht egal.
„Das Direktmandat muss Ausgleiche im Sinne des Bonn-Berlin-Gesetzes erwirken“
Was ist für Bonn drin, wenn wir Sie wählen?
Mein Platz bleibt hier vor Ort in der Lokalpolitik in Bonn. Es gibt hier in den kommenden Jahren viel zu tun. Wer uns in Berlin vertritt muss sich auch konkret um das Bonn-Berlin-Gesetz kümmern. Das steht an und kann nur in Berlin besprochen werden. Seit 2003 und 2004 werden für das Bonn-Berlin-Gesetz Fakten geschaffen: Stellen werden nach Berlin umgezogen oder hier in Bonn nicht neu besetzt. Das widerspricht dem Bonn-Berlin-Vertrag. Er beinhaltet einige Kompensationsmöglichkeiten, etwa für Kultur und Wissenschaft. Aber damals war das Thema Wohnen noch nicht auf der Agenda. Ich würde mir wünschen, dass die Person, die uns in Berlin vertritt, einen Nebenvertrag für entstehende faktische Abzüge schließt. Sie sollte einen Ausgleich für den Wohnungsmarkt erwirken, das Bonn aus Berlin für verlorene Arbeitsplätze in den Regierungsanstalten Geld für den Wohnungsmarkt erhält.
In Bonn waren soziale Brennpunkte wie Tannenbusch Corona-Infektionsherde. Sollten oft beengter lebende Menschen mit anderen kulturellen Hintergründen nicht nur in Krisenzeiten mehr in den Blick genommen und unterstützt werden?
Selbstverständlich, da rennen Sie bei uns offene Türen ein. Ein Teil der Corona-Maßnahmen waren Schulschließungen und Distanzunterricht. Viele Kinder in beengten Wohnungsverhältnissen haben keinen Zugang zu Laptops oder Druckern. Wir fordern klar, dass diese Mehrbedarfe von den Ämtern anerkannt werden. Eine Forderung ist, dass jede Schülerin und jeder Schüler eine entsprechende Infrastruktur zur Verfügung gestellt bekommt, etwa Leihlaptops und das Lehrpersonal entsprechend ausgebildet wird. Digitale Formate sollten ihren Unterricht unterstützen und nicht ersetzen. Es braucht eine Kindergrundsicherung, die alle Kinder erreicht mit einem deutlich höheren Kindergeld, das nicht als Einkommen angerechnet wird. Gerade Menschen in prekären Lebenssituationen profitieren stark von einem Mindestlohn von 13 Euro oder von einer sanktionsfreien Grundsicherung.
In dieser schönen Welt, die Sie hier beschreiben, haben wir weiterhin das Problem des Wohnungsbaus. Unabhängig vom Bonn-Berlin-Vertrag müssten wir mehr Wohnraum schaffen. Wie gelingt uns das?
Wir wollen massiv investieren – vor allem in sozialen Wohnungsbau. In Bonn haben wir das Bauland-Modell, das bei einer bestimmten Wohnungsanzahl geförderte Sozialwohnungen vorsieht. Das wollen wir auch auf Bundesebene. Was wir auch wollen, ist das Prinzip „einmal gefördert, immer gebunden“. Es ist ein Problem, das immer mehr Wohnungen aus der sozialen Bindung rausfallen. Das darf so nicht bleiben.
„Der Wohnungsmarkt muss wieder zurück in kommunale Hand“
Wird der Wohnungsbau dann nicht unattraktiver für Investoren?
Wenn es uninteressant für Investoren wird, ist das gar nicht so schlimm. Der Wohnungsmarkt, etwa auch in Berlin, ist durch die Investoren überhitzt worden. Nach 2009 – also der Finanzkrise – hat das Kapital Anlagemöglichkeiten gesucht und diese etwa im Berliner Wohnungsmarkt gefunden. Wir wollen das Wohnen eine Frage der öffentlichen Daseinsvorsorge wird und nicht der Investitionen. Wir wollen den Wohnungsbau wieder zurück in kommunale Hand geben und dafür einen Rekommunalisierungsfonds aufsetzen, mit dem Kommunen bundesweit in die Lage versetzt werden, Eigentum und Grundstücke zurückzunehmen.
Die kommunale Verwaltung ist ja nicht immer der beste Bauherr, wie man an so manchen öffentlichen Projekten in Bonn sieht. Wie soll hier noch effizient gebaut werden, wenn eine Kommune das in die Hand nimmt?
Die öffentliche Hand hat verlernt zu investieren oder zu bauen, weil das jahrelange Credo der Neoliberalen ist, dass der Staat sich zurückziehen soll aus vielen Investitionsbereichen. Wenn das den privaten Investoren überlassen wird, ist auch das Personal nicht mehr da, weil es in der Wirtschaft besser verdient. Der Staat muss das wieder lernen. Das muss als politischer Willen forciert werden.
Gibt es Ihrer Meinung nach islamische Parallelgesellschaften in Bonn und Deutschland? Sehen Sie hier eine Gefahr oder nehmen Sie hier eher positive Multikulturalität wahr?
Es wurden in der Vergangenheit große Fehler bei der Frage der Integration gemacht. Junge Menschen, deren Eltern oder Großeltern als Gastarbeiter nach Deutschland kamen und die heute in der zweiten oder dritten Generation hier leben werden immer noch als Ausländer bezeichnet und behandelt. Ich wurde in Russland geboren und habe sofort die Deutsche Staatsbürgerschaft bekommen, als ich mit fünf Jahren nach Deutschland gekommen bin. Dementsprechend brauchen wir erleichterten Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft und einen Abbau von Rassismus. Der Nachname entscheidet immer noch darüber, ob man zu einen Bewerbungsgespräch oder einer Wohnungsbesichtigung eingeladen wird. Hier müssen wir antirassistische Arbeit leisten und ökonomische Bedingungen verändern. Ein Mensch lässt sich auch nicht nur auf ein Attribut wie seine Religion reduzieren. In meiner Partei sind ganz viele Muslime, die auch Sozialisten sind und wir kämpfen gemeinsam für höhere Löhne und gegen Ausgrenzung.
Hat die kürzliche Flutkatastrophe Ihren Blick auf die Klimakrise geändert?
Nein, es ist eine zentrale Prognose der Klimaforschung der letzten zehn Jahre, das Extremwetterereignisse häufiger werden und in ihrer Stärke zunehmen. Wir haben die letzten Jahre Dürresommer gehabt und jetzt sehen wir uns einer Starkregen- und Flutkatastrophe gegenübergestellt, die Menschenleben gekostet hat. Jede Hitzewelle kostet Menschenleben, aber bei einer Flutkatastrophe sind die Opfer der Zerstörung noch unmittelbarer zu sehen. Meine Meinung, dass wir so schnell wie möglich aus der Kohle rausmüssen, hat sich überhaupt nicht geändert. Da wollen wir 2030 allerspätestens raus. Das Steinkohlkraftwerk Datteln 4 wollen wir sofort vom Netz nehmen. Wir wollen die Tagebaue wieder nutzbar machen. Wir wollen 40 Milliarden Euro in den Strukturwandel der Region investieren. Die Menschen vor Ort sollen selbst in sogenannten Transformationsräten entscheiden, wie sich ihre Region weiterentwickeln soll.
Wenn Sie möglichst schnell Kohlekraftwerke abschalten wollen, muss ja die Energie woanders herkommen. Welche Konzepte haben Sie dafür?
Massiv in erneuerbare Energie investieren – in Solar- und Windparks. Auch in regionale Strukturen muss investiert werden, sodass die Menschen vor Ort einen Nutzen von der Energiewende haben. Da haben wir konkrete Zielvorgaben im Programm, bis wie viele Kilowattstunden wir Erneuerbare erzeugen wollen. Bis 2025 wollen wir 10 Gigawatt Photovoltaik installieren, sowie sieben Gigawatt Windenergie an Land und zwei Gigawatt auf See. Wir möchten die Energiewende regional in den Kommunen vorantreiben, damit wir nicht den gewaltigen Leitungsausbau brauchen, wie im Moment von der Ost- und Nordsee hinunter nach Bayern.
Wenn es um regionale Projekte, hört man auf „not in my backyard“: Menschen finden erneuerbare Energien toll, bis sie auf das Windrad blicken müssen.
Wir wollen den Ängsten der Bürgerinnen und Bürger entgegenwirken, indem etwa Windanlagen den Menschen vor Ort gehören sollen und nicht irgendwelchen Konzernen. So haben die Menschen einen Vorteil. Bei Ausschreibungssystemen für Bürgerenergieprojekte in genossenschaftlicher oder kommunaler Hand oder über einen Bürgerverein wollen wir bis 18 Gigawatt Erleichterung beim Ausschreibungsverfahren. Bürger*innen haben es so leichter Wind- oder Solarparks zu bauen und vor Ort von den Einnahmen zu profitieren.
„Frieden ist ein wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung und Ökologie“
Mal abseits von den erneuerbaren Energien: Was halten Sie von Nord Stream 2, der umstrittenen Gas-Pipeline von Russland nach Mecklenburg-Vorpommern?
Das strategische Energieprojekt zwischen Deutschland und Russland ist ökologisch eine Unsinnigkeit sondergleichen, aus geopolitischer Sicht jedoch sinnvoll. Frieden ist ein wesentlicher Bestandteil einer nachhaltigen Entwicklung und Ökologie. Alles, das dazu beiträgt, dass sich die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland normalisieren, ist erstmal zu befürworten. Darum kann ich Nord Stream 2 für den Moment hinnehmen.
Ist es denn wirklich friedensfördernd, wenn man Russland unterstützt, die Ukraine zu umgehen?
Es wurden Lösungen gefunden, die Ausgleiche für die Ukraine bringen. 2013 hat außerdem die Ukraine die Gasleitungen nach Europa geschlossen und versucht es Russland in die Schuhe zu schieben.
Können Sie denn verstehen, dass sich die Ukraine nicht nur übergangen fühlt, sondern auch Angst davor hat, weil Vereinbarungen gebrochen werden können, während eine Pipeline existiert?
Wenn wir über die Ukraine sprechen, müssen wir auch darüber sprechen, dass sich die EU und die NATO über Jahrzehnte – seit dem Zerfall der UdSSR – gegen die Interessen Russlands immer weiter in den Osten ausgebreitet hat. Letztendlich ist der Konflikt in der Ukraine eskaliert. Auf Druck der EU musste die Ukraine das Ratifizierungsabkommen unterschreiben. Putin hat als Reaktion darauf die Krim annektiert. All das war unnötig und hätte verhindert werden können.
„Fragen des Katastrophenschutzes und Warntechniken wie Cell Broadcasting müssen ernster genommen werden“
Am Beispiel der Hochwasserkatastrophe und der Coronakrise haben wir gemerkt, dass die Digitalisierung auch Menschenleben kosten kann, weil Warn-Apps zu spät fertig werden, zu wenig Funktionen haben, zu selten oder zu häufig auslösen. Wo ist das Problem bei der Digitalisierung des Bevölkerungsschutzes?
Über die Warntechnik Cell Broadcasting könnten Menschen in einem bestimmten Bereich direkt per SMS gewarnt werden. Hierfür müssen keine personenbezogenen Daten erhoben werden. Fragen des Katastrophenschutzes wurden hierzulande bisher nicht wirklich ernst genommen, obwohl die Prognosen der Wissenschaft deutlich sind. Bei jeder Katastrophe muss die Bundeswehr anrücken. Warum sind nicht Feuerwehr, das THW oder die Verwaltungen entsprechend ausgerüstet und verfügen über das Know-how, um auf Katastrophenfälle reagieren zu können?
In der konkreten Katastrophe ist die Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung sehr groß. Es muss möglich sein, Ehrenamtliche besser über Hauptamtliche in der Verwaltung koordinieren zu können. Wir dürfen Fragen der öffentlichen Verwaltung nicht auf dem Rücken ehrenamtlicher Bürger abladen. Der Katastrophenschutz muss in Deutschland strukturell gestärkt werden, indem entsprechende Meldeketten ernst genommen werden und Sirenen wieder aktiviert werden.
Wenn Sie Gelder für die Digitalisierung in die Hand nehmen, setzen Sie dann auf Produkte von Microsoft?
Nein, wir setzen ganz klar auf Open Source. Wir möchten gesetzlich verpflichten, dass öffentliche Stellen auf Open-Source-Programme wechseln müssen. Wir möchten, dass es bei kommerziellen Anbietern so etwas wie eine Garantie für Software gibt. So wie es im Handel die gesetzliche Gewährleistung – Garantie – von zwei Jahren gibt, müssen Anbieter von Software verpflichtet werden ein Programm über eine bestimmte Zeit mit Sicherheitsupdates zu unterstützen. Wenn ein System ältere Programme nicht mehr unterstützt, tauchen nicht behebbare Sicherheitslücken auf. Dann muss man das Programm durch ein Neueres ersetzen. Hier wollen wir die Vorgaben ändern. Wenn keine Updates mehr kommen, sollte der Quellcode veröffentlicht werden müssen.
„Wir möchten IT-Anbieter zu Updates für ihre Programme verpflichten“
Sollten im Sinne des Umweltschutzes und der Arbeitsbedingungen in ärmeren Ländern globale Lieferketten überdacht werden? Ist das neue Lieferkettengesetz etwa der Weg für mehr Umweltschutz hin zu einer regionalen Landwirtschaft?
Das Lieferkettengesetz, so wie es jetzt beschlossen wurde, ist das Papier nicht wert, auf dem es geschrieben steht. Es gilt nur für sehr große Betriebe und hat außer dem eigenen Betrieb nur ein weiteres Glied – nämlich den direkten Zulieferer. Es gibt nicht die Möglichkeit der zivilrechtlichen Klage bei Verstößen. Wir brauchen ein Lieferkettengesetz, das auch für mittlere Unternehmen ab 250 Mitarbeitenden gilt, das die zivilrechtliche Klage ermöglicht und auch die gesamte Lieferkette einschließt.
Was antworten Sie Unternehmern, die sich dann darüber beschweren, dass das Gesetz einen zusätzlichen bürokratischen Aufwand mit sich bringt? Es gibt ja auch Unternehmer, die traditionell bei Lieferketten auf Vertrauensbasis arbeiten und jetzt zusätzliche Arbeitskräfte für den Papierkram einstellen müssen.
Es war ja nicht zu viel Aufwand, die Lieferkette herzustellen und der Unternehmer kennt seine Lieferanten ja. Das wäre nicht wirklich ein signifikanter Mehraufwand und ich erachte das als überschaubar. Eine regelmäßige Berichtspflicht gibt es ja teilweise schon.
Von den Corona-Hilfen profitierten insbesondere Großunternehmen, die sogar Dividenden ausschütten konnten. Wie möchten Sie kleine und mittlere Unternehmen (KMUs) und Selbstständige nach der Wirtschaftskrise unterstützen?
Wenn man sich anguckt, dass etwa die Lufthansa mit neun Milliarden Euro gerettet wurde, ohne dass dies mit Auflagen hinsichtlich von Arbeitsplätzen verbunden wurde, ist das ein ziemlicher Skandal. Wir wollen KMUs und kleinere Unternehmen langfristig unterstützen, indem wir die Gewerbesteuer neu organisieren und den Freibetrag dort massiv erhöhen. Das soll gegenfinanziert werden. Wir möchten eine einmalige Vermögensabgabe, um die Corona-Kosten zu bezahlen. Sie soll greifen ab zwei Millionen Euro für Privatpersonen und fünf Millionen für Betriebsvermögen und über 20 Jahre abzahlbar sein. Darüber würden mehr als 300 Milliarden Euro in die Kasse kommen, um die Folgen der Coronakrise zu begleichen. Wenn die zukünftige Bundesregierung nicht von Linken geführt wird, wird sie wieder an die mittleren Einkommen und Unternehmen gehen, wie schon in der Vergangenheit. Sie wird versuchen, bei den Armen wegzusparen.
„Es braucht eine Vermögenssteuer, damit nicht wieder der Mittelstand belastet wird“
Die Umverteilung kann nur über Besteuerung funktionieren. Was sind hier die Pläne der Linken?
Langfristig brauchen wir eine Vermögenssteuer in Höhe von einem Prozent, die ab eine Millionen Euro und bei Betriebsvermögen ab fünf Millionen Euro greift. Diese bringt jedes Jahr etwa 90 Milliarden Euro in die Kasse und betrifft nur etwa ein Prozent der Bevölkerung. Darüber möchten wir Steuererleichterungen finanzieren. Jemand, der unter 6.500 Euro im Monat brutto bekommt, profitiert von unserem Steuerkonzept. Wer darüber verdient wird stärker belastet.
Wie profitieren Arme, die keine Steuer bezahlen?
Bedürftige ohne Einkommen profitieren von einer sanktionsfreien monatlichen Grundsicherung von 1.200 Euro. Das ist unser Mittel, um Armut in Deutschland zu überwinden. Wer diesen Betrag erhält, gilt laut Medien nicht mehr als armutsgefährdet.
Das wäre kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern eine neue Art der Sozialhilfe?
Richtig, es ersetzt das aktuelle Hartz-IV-Regime.
„Ökonomisches Auseinanderdriften der Gesellschaft wirkt auch sozial und politisch“
Was halten Sie denn von Modellprojekten zum bedingungslosen Grundeinkommen? Ist unsere Gesellschaft dafür zu erwerbszentriert?
Das bedingungslose Grundeinkommen ist finanziell sicherlich möglich. Es gibt hierzu allerdings einige offene Fragen, die auch bei Linken diskutiert werden: Ist das bedingungslose Grundeinkommen existenzsichernd oder nicht? Ist es so hoch, dass ich davon anständig leben und Teilhabe an der Gesellschaft haben kann oder reicht es nicht? Wenn wir uns ein Modell vorstellen, dass nicht zum Überleben reicht und man weiterhin Erwerbsarbeit wahrnehmen muss, ist die Gefahr groß, dass die Löhne massiv fallen, ohne dass man am Ende mehr in der Tasche hat. Warum sollte das Unternehmen noch die Löhne zahlen wie vorher? Neoliberale würden nun auch die Sozialsysteme, wie Renten- und Versicherungssysteme abschaffen. Das darf auch auf gar keinen Fall passieren. Da wären wir und sicherlich ich nicht mit dabei. Es gibt ein Modell des bedingungslosen Grundeinkommens von links, das Emanzipatorische Grundeinkommen. Das wird bei uns gerade diskutiert. Dort bleiben diese Systeme alle in Kraft.Es muss einen Unterschied geben von jemanden, der jahrelang vom Grundeinkommen gelebt hat, was völlig ok ist, und einer Person, die jahrelang in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hat. Letzterer hat sich vielleicht einen anderen Lebensstandard aufgebaut. Ein Grundeinkommen deckt auch nicht alle Bedürfnisse ab; etwa Mehrbedarfe für Menschen mit Behinderung. Es gibt also noch zahlreiche Fragen, was das BGE angeht. Außer Frage steht für mich aber, dass niemand unter 1.200 Euro im Monat fallen darf. Darum fordern wir eine sanktionsfreie Grundsicherung.
Vielen Dank für das Gespräch und alles Gute für die Wahl!
Das Interview führten Johannes Mirus und Ansgar Skoda am 2. August 2021 per Videokonferenz.
Soll die private Krankenversicherung abgeschafft werden, Herr Bergen. Und was genau sind Ihre Pläne zur Bürgerversicherung? Leider geht das aus Ihren Antworten nicht klar hervor!
Guten Tag,
Vielen Dank für Ihre Rückfrage.
Ja, unser Konzept für die Gesundheitsversicherung kann ich gerne im Detail ausführen.
Wir wollen eine solidarische Gesundheitsvollversicherung. Das heißt konkret das alle aus ALLEN Einkommen einzahlen. Damit sind nicht nur Beamte, Selbstständige und Politiker gemeint, sondern auch Einkünfte aus Kapitalgewinnen. Dazu wollen wir die Beitragsbemessungsgrenze abschaffen. Durch diese Maßnahmen reduziert sich der Beitragssatz von etwa 15 % auf ca. 12%. Für Menschen mit einem Monatseinkommen bis 6.200 Euro sinken dadurch die Beiträge für die Krankenversicherung. Vor allem Rentner und Selbständige mit kleinen Einkommen werden deutlich entlastet.
Die Beiträge könnten sogar weiter fallen, allerdings wollen wie auch die Leistungen ausbauen. Alle medizinisch notwendigen Leistungen, Medikente, Brillen, Zahnersatz und Physiotherapie kommen wieder in den Leistungskatalog.
Damit erledigt sich das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungen im Grunde und das wäre auch gut so. Wir wollen die Zweiklassenmedizin überwinden, weil sie mehr Nachteile als Vorteile hat. Die privaten KVen sorgen sich vor allem um ihren Profit und wenig um die Gesundheit der Bevölkerung. So lange man jung, gesung und kinderlos ist mögen die Beiträge attraktiv sein. Sobald man sich jedoch die Beiträge nicht mehr leisten kann, weil man z.B. älter wird (soll es ja geben), verliert man den Versicherungsschutz und gerät schnell in eine bürokratische Mühle. etwas 100.000 Menschen in Deutschland haben keinen Versicherungsschutz. Das wollen wir ändern!