Kurz vor der Sommerpause des Bonner Theaters lasse ich gerne noch einige besondere Theatermomente Revue passieren, bis schon am 25. Juni das Kehraus-Konzert die Spielzeit 21/22 beendet.
Zu den Highlights des letzten Monats zähle ich insbesondere die Aufführung von Ein Feldlager in Schlesien. Nach der Berliner Uraufführung 1844 verschwand das „Singspiel in Lebensbildern aus der Zeit Friedrich des Großen“ in der Versenkung. Die Oper Bonn widmet sich mit der ambitionierten Reihe „Fokus 33“ Werken mit einer „Forschungsreise zu den Ursachen von Verschwinden und Verbleiben“. Die Oper behandelt Patriotismus und Volkstreue, spielt 1763 im Siebenjährigen Krieg und verherrlicht Friedrich den Großen.
Giacomo Meyerbeers (1791-1864) bekanntestes Werk galt über vier Jahrzehnte als preußische Nationaloper, da sie unter anderem die Bereitschaft des preußischen Militärs behandelt, für das Vaterland zu sterben. Militärische Marschmusik wie der „Dessauer Marsch“ wird im Mittelteil während des eigentlichen Feldlagers zur Ermutigung der Soldaten gespielt. In der Bonner Inszenierung von Jakob Peters-Messer wurde das Publikum von vier Chören und Musikern umstellt. Einige Zuschauerreihen nahmen hier nach der Pause auf einem Podest auf der Bühne Platz. Das Musikcorps des Heeres spielte so inmitten der Zuschauerreihen.
Es war ein mutiger Verdienst der Oper Bonn, das Werk nach 130 Jahren wieder auf der Bühne zu zeigen. Gut koordinierte Massenszenen, originalgetreue preußische Uniformen und Fahnen, exzellente Vokalsolisten und Akzentsetzungen der Blasinstrumente wie Soloflöten und Bläser machten die Vorführung zu einem einmaligen Erlebnis.
Wiedergegebene Stimmen realer Opfer des Krieges hinterfragen unreflektierten Patriotismus und territoriale Besitzansprüche. Nach der Pause wurde prominent ein Zitat von Wolodymyr Selenskyj zum Überfall Putins auf die Ukraine zitiert. Die starken Bilder und Arien bleiben in Erinnerung. Es ist schön, dass die Ein Feldlager in Schlesien im vierten Anlauf endlich in Bonn gezeigt wurde.
Li-Tai-Pe von Clemens von Franckenstein an der Oper Bonn, letzte Vorführung am 24.6. im Opernhaus entfällt ersatzlos.
Nach Giacomo Meyerbeers Oper zeigte die mehrjährige und verdienstvolle Reihe Fokus ’33 in Bonn ein weiteres, wenig bekanntes Werk, den Dreiakter Li-Tai-Pe des einstigen Münchner Intendanten Clemens von Franckenstein (1875-1942).
Li-Tai-Pe erzählt von dem gleichnamigen berühmten chinesischen Dichter aus dem 8. Jahrhundert; „Tai-Pe“ steht für den Abendstern. Inspiriert wurde er der Legende nach zu Trinkliedern durch den übermäßigen Genuss des Alkohols. In Franckensteins Oper schreibt er für den Kaiser ein Liebesgedicht, womit dieser erfolgreich eine schöne koreanische Prinzessin als Braut umwirbt. Als Li-Tai-Pe von Günstlingen des Kaisers denunziert wird, rettet ihn eine treu ergebene Frau aus dem Volke, Yang-Gui-Fe.
Eng gedrängt steht der Chor mitsamt Statisterie auf der Bühne. Einige üben sich in Chi-Gong-Figuren. Wechselnde Kostüme bedienen China- Klischeevorstellungen. Chinesische Gelehrte, sogenannte Mandarine, lenken in der Pause trippelnd mit parodistisch stilisierten Figuren die Aufmerksamkeit des Publikums. Ein Statist im Glücksdrache-Kostüm tritt auf, der flugs in einen Vogelkäfig gesperrt wird. Später trennt und verbindet eine große Treppe den Kaiser und sein Volk. Die Minnebarden werfen sich demütig vor ihn auf den Boden.
Fernöstliche Klangelemente und exotisch anmutende Harmonien sorgen für Spannungsmomente in der Musik. Solisten, Chor und Orchester setzen insgesamt glänzend Akzente in der liebevoll-überzeichneten, leider etwas langatmigen Inszenierung von Regisseurin Adriana Altaras.
Die Produktion wurde vom WDR aufgezeichnet und ist am 13. August 2022 um 19.05 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur zu hören.
Der Schimmelreiter von Theodor Storm am Theater Bonn, letzte Vorführung am 24.6. im Schauspielhaus Bad Godesberg
„Das Wasser möchte irgendwann wieder in das Meer…“ Die eindrückliche, liebevoll-detailreiche Vorführung präsentiert Ausschnitte aus der bekannten gleichnamigen Novelle von Theodor Storm aus dem Jahre 1888. Das Spätwerk Storms ist seine wohl bekannteste Erzählung und handelt vom unheilvollen Schicksal eines ambitionierten Deichgrafen. 18 Schüler:innen und drei Schauspieler:innen haben im Bad Godesberger Schauspielhaus seine Lebensgeschichte weitergedacht.
Einige der Jugendlichen treten überraschend gekonnt einzeln mit kurzen Monologen hervor. Sie verbinden Storms Vorlage mit gegenwärtigen Ängsten, befragen die Motivation der unheimlichen Heldenfigur der Sage, Hauke Haien. Sie sprechen teils synchron, rufen gemeinsam laut aus „Ich fasse es nicht“. Vier Jugendliche mit Behinderung beteiligen sich ausdrucksstark in der Rolle von Dorfbewohnern, die mit Naturgewalten kämpfen. Die vielstimmige Performance überrascht neben den gut abgestimmten Ensembleszenen mit einem stimmungsvollen Bühnenbild vom beweglichen Deich. Auch Details, wie das effektvoll angedeutete Skelett eines Schimmels, bleiben in Erinnerung.
Peer Gynt mit dem Slowenisches National Ballett Maribor bei den Highlights des internationalen Tanzes am Bonner Opernhaus
Auch eine andere Heldenfigur bleibt auf der Bonner Bühne unvergessen. So zeigte das Ballett und Orchester der SNG Maribor Oper in einer Deutschlandpremiere Peer Gynt in einer sehenswerten Choreographie von Edward Clug. Peer Gynt, nach dem legendären Versdrama des Norwegers Henrik Ibsens, handelt, ähnlich wie Der Schimmelreiter, von Identitätsfragen und einer ungewöhnlichen Lebensbiografie. Auch in Clugs Peer Gynt hatten die Akteure Raum für Improvisationen.
Die dramatisch durchaus kohärente Balletterzählung zu Musik von Edvard Grieg (Bühnenmusik zu Peer Gynt, Suiten, ein Klavier- und ein Violinkonzert) sprüht choreographisch von ironischen Einfällen, Absurdität und subtilen Andeutungen. Die 130minütige, dynamische Tanzperformance einschließlich Pause bot erzählendes, zeitgenössisches Ballett mit hoher Präzision, gut aufeinander abgestimmtem Timing und originellen Bildern.
Am 30. September feiert übrigens am Bonner Theater eine Vorführung von Ibsens Drama Premiere.
Ernani von Giuseppe Verdi an der Oper Bonn, letzte Vorführung am 23. Juni im Opernhaus.
Verdis frühe Choroper Ernani beruht auf einem romantischen Schauspiel Victor Hugos, das sich wiederum auf historische Ereignisse bezieht. Drei Männer begehren Elvira, die selbst jedoch nur einen von ihnen liebt, Don Juan de Aragon. Dieser ist geächtet und wird auch Ernani genannt. Elviras Onkel und Vormund, Don Ruy Gomez da Silva, erwägt eine List, um Elvira vielleicht doch noch zu heiraten. Außerdem macht ein anderer mächtiger Mann ihr den Hof, König Carlo.
Das Ensemble agiert die meiste Zeit auf mehreren Ebenen, insbesondere vor und auf einem drehbaren Kubus, der mittels Stelzen oberhalb der Bühne schwebt.
Kapellmeister Will Humburg dirigiert temporeich. Das Beethoven Orchester Bonn überzeugt mit scharf konturierten Melodielinien und dynamischen Abstufungen. Der georgische Tenor George Oniani strahlt mit feiner Stimmführung und prägnanten Phrasierungen in der Titelpartie. Stimmlich kraftvoll und insbesondere in tiefen Lagen dramatisch-temperamentvoll mimt Yannick-Muriel Noah die Elvira. Darstellerisch ausdrucksstark und mit volltönendem Bass verkörpert Pavel Kudinov den rachsüchtigen Silva. Frederico Longhi glänzt als Don Carlo mit höhensicherem Bariton solide Vitalität und Kampfgeist aus. Auch der Chor unter der Leitung von Marco Medved gefällt schlussendlich klangfarbenreich mit spielfreudiger Intensität.
Leider erscheint die Personenregie etwas konventionell. Die Figuren bleiben ein bisschen oberflächlich und holzschnittartig. Das Schicksal der Figuren berührt so in der düsteren, jedoch durchaus mitreißend-stimmungsvollen Inszenierung von Roland Schwab recht wenig.
Ein Blick von der Brücke von Arthur Miller am Schauspielhaus Bad Godesberg, letzte Vorführung am 23. Juni.
Martin Nimz zeigt Arthur Millers sozialkritisches Drama Ein Blick von der Brücke (1955) am Theater Bonn mit vielen Bewegungs- und Stimmungsbildern. Unterstützt wird er hierbei durch Choreographien von Johannes Brüssau, welche die Figuren in der Gemeinschaft aber auch alleine spannungsvoll porträtieren. Zur Besprechung.
Unsere Welt neu denken nach Maja Göpel im Schauspielhaus, nächste Vorstellung am 25. Juni im Schauspielhaus
Verzicht fällt den Menschen schwer. Jede Partei verliert sofort Wählerstimmen, wenn sie Verzicht predigt. Ein bekanntes Werk, das zu einer neuen Konsumhaltung anregt, ist Maja Göpels Sachbuch-Bestseller Unsere Welt neu denken (2020). Die Nachhaltigkeitsforscherin schrieb ein Plädoyer für eine Neuorientierung auch ökonomischer Werte angesichts der Krise des Ökosystems und der Gesellschaften. Simon Solberg, Hausregisseur am Theater Bonn, inszeniert nun Inhalte des erzählenden Sachbuchs als unterhaltsame Bühnenshow mit einer Band-Begleitung, Live-Gesang und Tanz. Zur Besprechung
Nach der Sommerpause wieder im Programm:
Chicago von Fred Ebb, Bob Fosse und John Kander an der Oper Bonn, nächste Vorstellungen am 19. und 25. August und 3. und 24. September
Das Musical kam 1975 am Broadway zur Uraufführung. Die gleichnamige Verfilmung von 2002 wurde mit ganzen sechs Oscars prämiert. Gil Mehmert inszeniert die zynische Geschichte über Verbrechen, mit denen man Bekanntheit erlangt, an der Oper Bonn pointiert und höchst unterhaltsam. Die kurzweilige Show-Revue beleuchtet zynisch und satirisch den Umgang mit Verbrechen in Chicago; hier als ein Hotspot des Kapitalismus gezeichnet. Auch die Eitelkeiten und Skrupellosigkeit im Showbiz werden effektvoll vorgeführt. Zur Besprechung
The Broken Circle von Johan Heldenbergh und Mieke Dobbels in der Werkstatt, nächste Vorführungen am 13., 22 und 26. September.
The Broken Circle der Belgier Johan Heldenbergh und Mieke Dobbels war 2012 ein Überraschungs-Kinoerfolg, der sogar für einen Oscar nominiert wurde. Das Drama erzählt die leidenschaftliche Liebesgeschichte der Tätowiererin Elise und des Bluegrass-Musikers Didier. Das insgesamt berührende Stück verhandelt eindrücklich existentielle Fragen, wie den Verlust eines Kindes und das Gefühl der Ausweglosigkeit, der Sehnsucht und der Vergeblichkeit. Zur Besprechung.
Alle Fotos vom jeweiligen Abschlussapplaus | Foto (c) Ansgar Skoda