Die Kampagne „Vorfahrt Vernunft“ der Bonner Wirtschaftsverbände spricht sich vordergründig dafür aus, die Verkehrswende zu unterstützen. Was steckt hinter den Forderungen der Kampagne? Ein genauer Blick verrät mehr darüber.
Die Kampagne „Vorfahrt Vernunft“ der Bonner Wirtschaftsverbände (IHK, Kreishandwerkerschaft, Handwerkskammer, Einzelhandelsverband, City-Marketing) spricht sich vordergründig dafür aus, die Verkehrswende zu unterstützen. Abgesehen von der bereits offensichtlich dieser Aussage widersprechenden Tatsache, dass sich alle vier von der Kampagne aufgelisteten zentralen Herausforderungen um den Autoverkehr drehen und andere Verkehrsmittel daher anscheinend für die Wirtschaftsverbände weniger wichtig sind, lohnt ein Blick in die Texte der Kampagnen-Webseite, um zu sehen, dass die Bonner Wirtschaftsverbände den Begriff Verkehrswende anscheinend nicht verstanden haben.
Was heißt eigentlich Verkehrswende?
Zwar gibt es für den Begriff Verkehrswende durchaus unterschiedliche Definitionen. Für Bonn allerdings ist die Definition recht einfach. Bereits 2019 – noch vor der letzten Kommunalwahl – hat der Stadtrat mehrheitlich entschieden, wie die Verkehrswende in Bonn aussehen soll: Bis 2030 soll sich der Modal Split, also der Anteil der unterschiedlichen Verkehrsmittel am Gesamtverkehrsaufkommen, stark zugunsten der Verkehrsmittel ÖPNV, Rad und zu Fuß verschieben – mindestens 75% aller Wege in Bonn sollen 2030 mit diesen Verkehrsmitteln zurückgelegt werden. Das ist eine enorme Verschiebung, wie ein Blick auf die beiden folgenden Grafiken zeigt.
In Blautönen dargestellt ist der Anteil des Autoverkehrs (als Fahrer bzw. Mitfahrer) an den zurückgelegten Wegen in Bonn. In Grüntönen sind die Verkehrsmittel des sogenannten Umweltverbundes dargestellt: zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV.
Die letzte verfügbare Datengrundlage für den Modal Split stammt von 2017 und entstammt der vom Bundesverkehrsministerium in Auftrag gegebenen Studie „Mobilität in Deutschland“ (2023 werden neue Daten erhoben, die 2024 zur Verfügung stehen sollten). 2017 lag der Anteil des Autoverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen in Bonn bei 41%. 2030 – das ist in gerade mal sieben Jahren – soll dieser Anteil auf maximal 25% gesunken sein. Das ist ein Rückgang um etwa 40%.
Noch mal: Der Anteil des Autoverkehrs in Bonn soll bis 2030 um 40% zurückgehen. Gleichzeitig soll der Anteil der anderen Verkehrsträger um ein Viertel zunehmen. Das ist das Verkehrswende-Ziel, das die Stadt Bonn sich – vor bereits längerer Zeit – gegeben hat. Auch damals war die Motivation bereits sowohl der Klimaschutz als auch die Lösung der in Bonn unbestreitbar vorhandenen Verkehrsprobleme.
Infrastruktur für die Zukunft
Mit Blick auf dieses Ziel erscheint es logisch, dass die Verkehrsinfrastruktur in Bonn 2030 anders aussehen muss als jetzt. Zufussgehende und Radfahrende werden deutlich mehr Raum brauchen, da mehr Menschen zu Fuß gehen und Radfahren werden. Auch der ÖPNV muss deutlich ausgebaut werden, um der geplanten steigenden Bedeutung gerecht zu werden. Für den Autoverkehr hingegen wird künftig weniger Infrastruktur benötigt, da deutlich weniger Wege mit dem Auto zurückgelegt werden.
Man kann darüber streiten, was der richtige Weg ist, diesen Zustand 2030 zu erreichen. Das Ziel an sich ist aber von einer breiten politischen Mehrheit in Bonn beschlossen (auch mit Zustimmung jetziger Oppositionsparteien) und sollte daher nicht Gegenstand der Diskussion sein.
Wirtschaftsverbände fordern bessere Autoinfrastruktur
An diesem Punkt lohnt ein Blick auf die Kampagnen-Webseite der Wirtschaftsverbände. Unter dem Stichwort “Lösungen” listet die Kampagne ihre Vorschläge für die Bonner Verkehrspolitik auf. Auffällig dabei: Geht es nach den Wirtschaftsverbänden, soll die Infrastruktur für alle Verkehrsträger – auch für das Auto – ausgebaut werden.
So schlägt die Kampagne beispielsweise vor, Ampelkreuzungen zu Kreisverkehren umzubauen, um dadurch die Kapazität für den Autoverkehr zu erhöhen. Auch eine Optimierung der Ampelschaltungen für den Autoverkehr schlägt die Kampagne vor und verfolgt damit ebenfalls das Ziel, den Verkehrsfluss zu beschleunigen und somit mehr Autoverkehr zu ermöglichen. Umweltspuren sollten für den Autoverkehr der Wirtschaftsunternehmen freigegeben werden – gerade erst dem ÖPNV zugeschlagener Platz also wieder teilweise zum Autoverkehr rückumverteilt werden.
Dies sind nur einige der Maßnahmen, die die Kampagne für den Autoverkehr vorschlägt. Mit Blick auf das oben beschriebene Bonner Verkehrswende-Ziel erscheinen diese Vorschläge mehr als fragwürdig.
Wieso sollte Bonn Infrastruktur für noch mehr Autoverkehr schaffen, wenn der Anteil des Autoverkehrs in den nächsten Jahren stark abnehmen soll? Wäre das sinnvoll verwendetes Geld? Der sowieso nur sehr begrenzt zur Verfügung stehende Platz in unserer Stadt wird für den Ausbau des ÖPNV sowie Rad- und Fußverkehr gebraucht – die Verkehrsmittel, die laut Beschluß gefördert werden sollen. Auch wenn man keine neuen Autostraßen baut, sondern nur die vorhandene Autoinfrastruktur effizienter macht (z.B. Ampelschaltungen) wird das nur zu noch mehr Autoverkehr statt weniger Stau führen, sofern nicht vorher die Alternativen massiv ausgebaut werden.
Zu Recht weist die Kampagne darauf hin, dass gerade Wirtschaftsunternehmen bestimmter Branchen (z.B. Handwerk) z.Zt. noch schwer auf das Auto verzichten können. Auch hierzu lohnt wieder ein Blick in die Mobilitätsstudie von 2017: Nur ein Drittel der Wege in Bonn ist berufsbedingt. Die restlichen zwei Drittel sind Privatfahrten, z.B. zum Einkaufen, zu Freizeitaktivitäten usw. Das bedeutet: Die Verlagerung weg vom Auto hin zu anderen Verkehrsträgern muss nicht unbedingt bei den Unternehmen passieren, die vom Auto abhängig sind. Gerade diese Unternehmen werden profitieren, wenn durch Verkehrsverlagerung der Autoverkehr abnimmt. Dann wird für den Wirtschaftsverkehr mehr Platz bleiben. Dazu braucht es aber keinen Ausbau der Autoinfrastruktur, sondern der Alternativen.
Radwege ja, aber bitte woanders
Dass die Wirtschaftsverbände primär das Auto im Blick haben, lässt sich auch an den Vorschlägen zum Radverkehr ablesen. So schlägt die Kampagne vor: „In den Innenstädten sollten durchgehende Radwegenetze geschaffen werden, die von den Hauptverkehrsstraßen des motorisierten Individualverkehrs größtenteils entkoppelt sind.“ Das klingt erstmal gut. Beim zweiten Lesen fällt allerdings direkt auf: In diesem Satz versteckt sich die Forderung, die Auto-Infrastruktur möglichst nicht anzutasten und die zu errichtenden Radwege irgendwo anders zu bauen. Ideen, wo genau das passieren soll, wenn nicht im vorhandenen Straßenraum, bleibt die Kampagne schuldig.
Auch an diesem Punkt sieht man wieder, dass die Wirtschaftsverbände anscheinend nicht anerkennen wollen, dass der Anteil des Autoverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen in Bonn sinken soll. Die Wirtschaftsverbände möchten den Status Quo der Auto-Infrastruktur beibehalten. Wird das so umgesetzt, wird der Anteil des Autoverkehrs nicht sinken. Menschen wählen das Verkehrsmittel, für das sie eine gute Infrastruktur in ihrer Umgebung vorfinden.
Diese gute Infrastruktur für Zufussgehende und Radfahrende muss jetzt gebaut werden. Für den ÖPNV muss sie ausgebaut werden. Dadurch wird die Nutzung alternativer Verkehrsmittel so einfach, sicher und attraktiv, dass die Leute umsteigen. Woher soll der Platz für diesen notwendigen Ausbau kommen, wenn nicht von der bisher sehr raumgreifenden Autoinfrastruktur? Eine Führung der Radverkehrs ausschließlich durch verwinkelte Nebenstraßen – also “entkoppelt” von den Hauptverkehrsstraßen – wird keine attraktive Radinfrastruktur hervorbringen, die wirklich als Alternative wahrgenommen wird.
ÖPNV ja bitte – aber abseits der Autostraßen
Dass die Wirtschaftsverbände auf der einen Seite einen Ausbau des ÖPNV fordern, auf der anderen Seite aber seit Monaten die Einrichtung von Umweltspuren (die den Busverkehr beschleunigen und den ÖPNV dadurch attraktiver machen sollen) auf dem Hermann-Wandersleb-Ring und der Oxfordstraße medial torpedieren ist ein weiterer Punkt, der zeigt, dass die Kampagne die Autoinfrastruktur bewahren möchte. Hier wird wieder sehr deutlich: Die Wirtschaftsverbände sind nur so lange für den Ausbau alternativer Verkehrsträger, wie der Autoverkehr nicht betroffen ist.
Doch so wird es nicht gehen. Es existiert in Bonn einfach nicht genug grüne Wiese, um neben der existierenden Autoinfrastruktur noch gute Rad- und Gehwege sowie guten ÖPNV zu bauen. Der Platz in unserer Stadt ist begrenzt.
Ein Blick auf die Vorschläge der Kampagne zum ÖPNV verdeutlicht dies noch mehr: Seilbahnbau, Ausbau der S23 und mehr Stadtbahnen sind tolle Sachen, die ich auch alle befürworte. Aber es fällt doch sehr auf, dass sich die Kampagne zum Ausbau des Busverkehrs fast vollständig ausschweigt. Beim Busverkehr würde es sofort zu Platzkonflikten mit dem Autoverkehr kommen (siehe Umweltspuren) – also klammern die Wirtschaftsverbände das Thema anscheinend lieber aus.
Das Dauerthema Parkplätze
Auch zum Thema Parkplätze hat die Kampagne eine Meinung. Sie schreibt: „Eine flächendeckende Parkraumbewirtschaftung darf nicht mit einem wesentlichen Verlust an Parkraum einhergehen.“ Einen Vorschlag hat sie auch gleich parat: „Wegfallender Parkraum auf der Straße muss also an anderer Stelle kompensiert werden: durch den systematischen Auf- und Ausbau von Quartiersgaragen.“
Es erscheint doch sehr sportlich, in allen Bonner Vierteln bis 2030 Quartiersgaragen zu bauen, um dann anschließend noch den so gewonnenen Platz auf der Straße neu zu verteilen. Das ist in der verbleibenden Zeit wohl nicht umsetzbar – von der Finanzierung mal ganz abgesehen. Auch weitere Aspekte des Vorschlags wirken wenig durchdacht: Woher sollen die Grundstücke für diese Quartiersgaragen kommen? Sollen bestehende Wohngebäude abgerissen werden? Wer soll den Bau so vieler Garagen eigentlich bezahlen bzw. wer möchte sich den zweifelsohne durch die hohen Baukosten sehr teuren Stellplatz in so einer Garage leisten? Und wer möchte neben einer Quartiersgarage wohnen? Der Vorschlag scheint mir reine Verzögerungstaktik zu sein. Realistisch ist er nicht.
Der Bau von Quartiersgaragen ist auch vor dem Hintergrund der gewollten Verringerung des Autoverkehrs bis 2030 nicht nachvollziehbar. Zum einen ist es nur logisch, dass sich durch Verlagerung von Verkehr auf alternative Verkehrsträger die Anzahl der Autos in unserer Stadt verringern wird. Wenn deutlich weniger Wege mit dem Auto zurückgelegt werden, wird es dazu weniger Autos brauchen. Menschen werden nicht auf Bus und Bahn umsteigen und weiterhin ein ungenutztes Auto an der Straße parken. Das macht allein aufgrund der hohen Kosten eines Autos schon keinen Sinn. Der zur Zeit in Bonn beobachtbare starke Ausbau des Carsharing kommt hinzu. Die Anzahl der benötigten Parkplätze wird also sinken. Dies macht den Nutzen teurer und zeitaufwändiger Quartiersgaragen fraglich.
Natürlich brauchen vom Auto abhängige Menschen einen Parkplatz für ihr Auto. Dazu sollte aber erstmal das vorhandene Potential an Stellplätzen auf privatem Grund ausgenutzt werden. Die z.Zt. vorangetriebene Einführung von Anwohnerparkzonen wird – zumindest in Vierteln, die zentrumsnah oder nah an Arbeitsplatzschwerpunkten liegen – ebenfalls die Anzahl der erforderlichen Parkplätze reduzieren. Unternehmen sollten schauen, wie sie die Anreise ihrer Mitarbeiter anders als mit dem PKW gestalten können, sofern sie nicht über ausreichend eigenen Parkraum verfügen.
Fazit
2019 hat die Bonner Politik beschlossen, wie eine Verkehrswende in Bonn aussehen soll. Vier Jahre später haben die Bonner Wirtschaftsverbände dies anscheinend noch nicht verstanden. Das Ziel, bis 2030 75% der Wege auf den Umweltverbund (zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) zu verlagern ist nicht erreichbar, wenn man zwar immerhin einen Ausbau der Alternativen fordert, die Autoinfrastruktur aber wie eine heilige Kuh behandelt.
Es muss eine Neuverteilung des Verkehrsraumes in unserer Stadt stattfinden, wenn wir die Verkehrswende schaffen wollen. Diese Neuverteilung kann nur zu Lasten des platzineffizientesten Verkehrsmittels gehen: des Autos. Platz für die stark auszubauende Gehweg-, Radweg- und ÖPNV-Infrastruktur wächst nicht auf Bäumen. Wir müssen mit dem Platz arbeiten, der da ist.
Absurderweise wird durch diesen Umbau, den die Wirtschaftsverbände ablehnen, genau das erreicht, was die Kampagne als größte Herausforderung sieht: Das Bonner Stauproblem wird gelöst sein, wenn viele Menschen bis 2030 auf effizientere Verkehrsmittel umgestiegen sind. Davon wird insbesondere der Wirtschaftsverkehr profitieren.
Ein Gastbeitrag von Martin Pelzer, Radentscheid Bonn. Das Orginal wurde hier veröffentlicht.