Leidenschaftlichkeit und Perspektiven fehlen in der Politik heutzutage. Spitzenpolitiker wie die Bundeskanzlerin verkörpern für viele keine glaubhaften Haltungen mehr. Die allgemeine Trägheit in politischen Fragen wird deutlich, wenn der Wahlkampf auf Plakaten mit Gesten statt Inhalten bestritten wird. Politikverdrossenheit prägte die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl und wäre vor etwa einem Jahrhundert in dieser Extensität wohl kaum denkbar gewesen. In der Zeit nach dem ersten Weltkrieg ging es den Bürgern aufgrund der erfahrenen Verluste darum, die alten Gesellschaftsstrukturen vollständig aufzubrechen.
Zu einer Lichtgestalt der Arbeiterbewegung für mehr soziale Gerechtigkeit wird bei der Novemberrevolution 1918 Rosa Luxemburg. Den Überlieferungen zufolge schöpft sie die Kraft für ihren politisch-visionären Kampf aus einer leidenschaftlichen Menschlichkeit und der Einfühlung in den Schmerz der unterdrückten Massen. Der Schriftsteller Alfred Döblin lässt Briefe und Schriften Luxemburgs in seinem experimentellen Roman Karl und Rosa einfließen, dem letzten Teil seines mehrbändigen Erzählwerks November 1918. Eine deutsche Revolution aus den Jahren 1949/50. Döblins vielschichtiges Epos, das den Zeitraum zwischen Herbst 1918 und Januar 1919 behandelt, wurde am Vorabend des Tags der Deutschen Einheit mit einem achtköpfigen Spielensemble von Hausregisseurin Alice Buddeberg am Bonner Theater uraufgeführt.
Leben ohne Gnade und ohne Gerechtigkeit
Die Bühnenbearbeitung greift die Brüchigkeit der Erzählweise Döblins auf. Neben geschichtliche Zeugnisse tritt Fiktion, neben tragische Einzelschicksale treten absurd-komische Elemente, neben philosophischen Diskursen ergehen sich die Figuren in mystischen Phantasien. Im Mittelpunkt stehen zwei parallel verlaufende Handlungsstränge: In der Einsamkeit der Haft phantasiert Rosa Luxemburg (Sophie Basse) ihren im Krieg getöteten Geliebten Hannes (Alois Reinhardt) herbei und überdenkt die Möglichkeiten und Grenzen ihres Kampfes für mehr Gerechtigkeit. Nach der Entlassung bei Kriegsende stellt sie sich gemeinsam mit ihrem Kampfgenossen Karl Liebknecht (Glenn Goltz) die Frage, wie es mit der Revolution weitergehen kann.
Einer der Höhepunkte der Inszenierung ist es, wenn Luxemburg Liebknecht lautstark davon überzeugen möchte, dass die Revolution ohne Ordnung und klares Konzept chancenlos ist. Ihr Appell wird von Liebknecht und den Bürgern überhört. Zu sehr Heißsporne eröffnen sie im Glauben an die Dringlichkeit eines sofortigen Umsturzes der Verhältnisse den Protestkampf. Obwohl Rosa Luxemburg ahnt, dass der Kampf den Deklassierten nicht helfen wird, stellt sie sich auf die Seite der Kämpfer und potentiellen Opfer. Im Zentrum der zweiten Handlungsebene steht hingegen Friedrich Becker (Sören Wunderlich), der versucht nach vier Jahren Kriegsdienst in den Schulbetrieb zurückzukehren. Gegen seinen Willen wird er immer mehr in die revolutionären Kämpfe der ersten Januartage 1919 verwickelt. Der Kampf geht um den Menschen und auch Friedrich Becker findet sich bald auf dem Schlachtfeld wieder. Die Antworten, die er für die großen Rätsel des Menschseins sucht, findet er auch in seiner Religiosität nicht.
Mit Erde und Blut besiegelt misslingt Gespenstervertreibung
Die Personenkonstellationen auf der Bühne verändern sich regelmäßig. Thematiken wie Missbrauch erscheinen als Nebenschauplätze. Es wird auf den heutigen Politikverdruss angespielt, wenn etwa der Schulrat (Johanna Falckner) die Hände rautenförmig vorm Bauch faltet und dabei genüsslich von der Alternativlosigkeit gegenwärtiger politischer Perspektiven erzählt. Gerade bei den Nebenfiguren verliert man mitunter den Überblick über ihre Rollen in den verschiedenen Handlungsebenen. Allgegenwärtig sind vor allem die Toten. Das abstrakte Bühnenbild von Cora Saller wird immer mehr mit Blut und Erde beschmutzt. Die gesamte Spielfläche ist schließlich nur noch ein Erdloch, einem Schlachtfeld oder Friedhof gleich. Der Geist des im Krieg verstorbenen Geliebten Rosa Luxemburgs wird im Stückverlauf immer mehr zum dunklen Engel, der die Orientierungslosigkeit einer brutalisierten und traumatisierten Gesellschaft zur Eskalation treibt. Dieser Geist des Zugrundegehens als Vermächtnis des Ersten Weltkriegs erscheint so wie ein fataler Vorgeschmack auf den Zweiten Weltkrieg. Denn als schlussendliche Verkörperung Satans wird Alois Reinhardts Figur zum laut Parolen klopfenden Waffenlieferer.
Ist Unterhaltung das neue Opium für das Volk?
Wenn einige Darsteller über die Zuschauerreihen springend auch für das Publikum die Revolution ausrufen, bezieht auch Reinhardts Figur des Satan die Zuschauer mit ein. Er möchte nun nicht mehr nur die „Ziege“ (gemeint ist wahrscheinlich Rosa Luxemburg), sondern auch die „Schafe“ zum Schunkeln einladen. Kurz darauf singen die Darsteller plötzlich „Und der Haifisch hat Zähne“ und zitieren so aus dem Moritat von Mackie Messer aus Bertolt Brechts und Kurt Weills Dreigroschenoper.
Immer wieder wird effektvoll die Inszeniertheit des Stückes auf der Bühne mitreflektiert, wenn die Figuren ihre Rollen verlassen und dadurch die konsumierende Zuschauerunterhaltung bloßstellen, modernen politischen Dramen Brechts oder Elfriede Jelineks ähnlich. Erheischt es unseren Beifall, wenn Satan dem Publikum einen Salto schlägt, obwohl die Figuren auf der Bühne sterben? Wie lächerlich, absurd und albern ist es, wenn Liebknecht, gleich fünfmal erschossen, stets aufs Neue dem Tode trotzend eifrig seine jüngsten Theorien erklärt? Sind wir aufrührerischen Extremen fern, weil die gepflegte Unterhaltung zum Opium für das Volk geworden ist?
Die Erinnerung an die Novemberrevolution 1918, an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist trotz ihrer deutlichen Längen interessant, unterhaltsam und wichtig. Die Inszenierung von Alice Buddeberg und Nina Steinhilber wirft Fragen auf: Wann sind Überzeugungen realisierbar und wann sind sie wahnhaft? Insgesamt stimmt das Drama nachdenklich, zum Beispiel wenn man am Morgen nach der Premiere am Tag der Deutschen Einheit als erstes das Radio einschaltet und auf WDR 5 die Sendung „Liegen bleiben“ heißt.
Weitere Spieltermine: Samstag, 16.11., und Samstag, 23.11., jeweils 19.30 Uhr; Freitag, 13.12. um 19.30 Uhr; Sonntag 22.12. um 18 Uhr; Mittwoch, 12.02.14 um 19.30 Uhr. Zusätzliche Infos gibt es auf der Homepage des Bonner Theater.
(Dieser Beitrag wurde am 05.10.13 auf Campus Web zuerst veröffentlicht.)